Mit Mundschutz und Mikrofon

Jeder singt allein – und am Ende entsteht ein vielstimmiges Werk im Studio. Am kommenden Wochenende ist das Lied im Gottesdienst von St. Nikolai zu hören.

Organistin Anne-Katrin Gera vor der mobilen Singstation
Organistin Anne-Katrin Gera vor der mobilen SingstationBettina Albrod

Hamburg. Anne-Katrin Gera, Organistin an der Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg-Harvestehude, ist auf Stimmenfang gegangen: Mit einer mobilen Singstation stand sie zwei Nachmittage lang vor der Kirche, um all denen eine Stimme zu geben, die derzeit wegen der Pandemie nicht gemeinsam singen dürfen. Wo sonst die Noten im Mundschutz hängen bleiben, wurden sie hier per Mikro aufgezeichnet.

„Ausgesucht habe ich das Lied „Ich singe dir mit Herz und Mund“, erklärt die Organistin. „Mit dem Herzen zu singen, wenn man es mit dem Mund gerade nicht darf, erschien mir sehr passend.“ Das gemeinsame Singen würde momentan vielen fehlen. Zwar gebe es zahlreiche digitale Chöre, aber sie wolle auch ein Angebot an diejenigen machen, die als normale Gemeindemitglieder jetzt verstummen müssten.

Endlich wieder singen!

Das Angebot fand Anklang. „Endlich wieder singen“, freut sich Annegret Willems, die auf der Wartebank sitzt. „Ich bin eine leidenschaftliche Sängerin und war lange Kantoreimitglied.“ Auch Renate Hergst lobt das „wunderbare Projekt“: „Es gibt viele Leute, die gern singen, und das ist die Gelegenheit dafür. Ich singe sonst in der Seniorenkantorei.“ Weitere Sänger kommen heran und reihen sich mit Abstand für die Stimmabgabe in die Warteschlange ein.

Der Kirchturm von St. Nikolai
Der Kirchturm von St. NikolaiNorbert Neetz / epd

Wie Notenlinien sind die Abstandshalter auf dem Boden aufgemalt – damit kennt sich inzwischen jeder aus. Derweil werden die Namen der Sänger notiert, die durch ein Einbahnstraßensystem bis zur Singstation geleitet werden. Dort ist der Zugang nur einzeln und mit Mundschutz erlaubt. Im Anschluss an die Aufnahme wird das Mikrofon desinfiziert, ehe der Nächste an der Reihe ist.

„Mmmmmh“, gibt Anne-Katrin Gera den Ton vor, und die erste Dame stimmt das Lied an, das von den Wartenden gleich mitgesummt wird. Text und Noten sind in der Kabine ausgehängt, und so können sich die Sänger ganz auf ihre Stimme konzentrieren. Glockenhell erklingt die erste Strophe, und dann ist es auch schon wieder vorbei.

Einsingen vermisst

„Der Nächste, bitte“, lädt Anne-Katrin Gera zum Gesang, und weiter geht es mit einem Tenor. „Ich war sehr unbefangen und habe mich unkonventionell gefühlt“, beschreibt Christian Schulz sein Erlebnis. „Das hat sich gelohnt.“ Annegret Willems findet die Singstation sehr schön, vermisst aber, dass man sich vorher nicht in der Runde eingesungen hat. „Die Aktion ist leider sehr von Corona geprägt.“ Weil Abstand und Wetter es gerade erlauben, stimmt Anne-Katrin Gera mit der Kleingruppe dann doch einmal gemeinsam das Lied im Draußen-Chor an.

Die Sonne scheint immer noch, zwei neue Sänger kommen hinzu, und die anderen summen unbewusst weiter das Lied. Das erklingt jetzt auch aus der Kabine, und als die Aufnahme beendet ist, gibt es spontanen Beifall. Eine andere Dame überlegt es sich und möchte doch lieber nicht allein singen. „Sie können stattdessen auch den Text lesen“, bietet die Kirchenmusikerin an.

Witzige Aktion

Anderen fehlt die Vielstimmigkeit. Das ändert Christian van der Laan, der mit geübtem Tenor die Unterstimme übernimmt. „Das ist eine witzige Aktion“, urteilt er, „ich singe sonst in der Kantorei, und das gemeinsame Singen fehlt.“ Man wisse, dass dieses Hobby gesund mache: „Das Singen hier hat einen guten Zweck, alle sollen gesund bleiben.“

Gesungen wird mit Herz und Mund und Mut und Inbrunst, mit unterschiedlichen Stimmen und immer sehr schön und überraschend professionell. Pastorin Corinna Senf steht nun auch am Mikrofon und trägt die Strophen eins und zwei vor.

Erst am Ende wird ein Chor daraus, wenn die Kirchenmusikerin mit Tontechniker Andrew Levine die Aufnahmen der 64 Sänger zu einer Klang-Collage zusammenführt. Am Wochenende des 20. und 21. Juni soll sie im Gottesdienst in St. Nikolai zu hören sein.