Mit dem Drahtesel von Kirche zu Kirche

In ganz Niedersachsen gibt es viele Radwegekirchen. Was beschäftigt die Menschen, die mit dem Fahrrad unterwegs sind und dort Rast machen? Eine Sonntagsfahrt von Bremerhaven nach Hannover offenbarte so manche Überraschungen.

„Eine sehr schöne Kirche“: ein Ehepaar aus Köln nach der Besichtigung des Doms zu Verden.
„Eine sehr schöne Kirche“: ein Ehepaar aus Köln nach der Besichtigung des Doms zu Verden.epd/Sven Kriszio

Sandstedt/Verden/Bücken/Schloß Ricklingen. Graue Wolken verdunkeln den Himmel. Wird es regnen? Erst in Sandstedt einige Kilometer südlich von Bremerhaven klart der Himmel auf.

11.25 Uhr, Sandstedt

Die Türen der alten Dorfkirche von 1420 stehen weit offen, zwei Bänke mit Blick auf den schmucken Friedhof laden zur Rast. Drinnen gibt es in Brottüten verpackte Überraschungen für Kinder und einen Bücherflohmarkt. Doch zu sehen ist niemand. Ein Gang um die Kirche führt schließlich zum Gemeindehaus, in dem der Pastor gerade Geschirr spült. „Fahrradfahrer habe ich heute noch keine gesehen“, sagt Clemens Bloedhorn. Schon Anfang Juli sei der große Radfahrer-Tag in der Region gewesen, so der 55-Jährige. „Alle Kirchen hier hatten da offen und haben Bänder verteilt. Manche Radfahrer sind auf acht bis neun gekommen.“

12.50 Uhr, Verden

Vor dem Eingang zum Dom, an dem die Signets für „Offene Kirche“ und „Radfahrerkirche“ hängen, sind neun Fahrräder abgestellt, drinnen ist jedoch nur die Küsterin zu sehen, die am Altar die Kerzen löscht. Bei der Frage, was Fahrradfahrer hier erwarte, schmunzelt sie. „Na, wir bieten Kirche“, sagt Beate Grotheer. Dann taucht ein Ehepaar in wetterfester Fahrradmontur und mit kleinen Rucksäcken auf, macht einen Gang durch den hohen Sakralbau und staunt. „Das ist eine sehr schöne Kirche“, stellen beide fest. Sie fahren in Etappen von Köln nach Bremen, 50 bis 70 Kilometer am Tag. Zum Gebet würden sie nicht in den Dom gehen, betont der Mann. Stattdessen interessiere sie die Baugeschichte. „Religiosität kann man auch woanders erfahren.“

14 Uhr, Bücken

Die doppeltürmige Stiftskirche St. Materniani et St. Nicolai, die ab 1050 erbaut wurde und auf halber Strecke nach Nienburg liegt, ist kühl und menschenleer. Mit „Wunderbar, diese Stille“ hat sich ein Ehepaar aus Wetzlar im Gästebuch verewigt. Als die Mittagssonne die Sonnenblumen auf dem Altar kräftig erstrahlen lässt, fällt die schwere Tür ins Schloss. Ausflügler aus dem 20 Kilometer entfernten Achim bei Bremen schauen sich vorsichtig um. „Wir wollten immer schon mal diese berühmte Kirche mit ihrer reichen Ausschmückung sehen“, schwärmt der Mann, während seine Frau den einzigartigen Sonnenblumen-Moment fotografiert. Besonders beeindrucke ihn die Handwerkskunst.

Am Nachmittag sind immer mehr Menschen auf Fahrrädern unterwegs, Rennradfahrer und Familien mit Kindern, aber auch Senioren mit E-Bikes. Erntefahrzeuge hinterlassen Staubwolken, es ist heiß geworden.

15.15 Uhr, Schloß Ricklingen

„Die Kirche ist offen“, kündet ein großes weißes Schild vor der altrosa getünchten Barockkirche Schloß Ricklingen bei Garbsen. Auch hier stehen etliche Fahrräder, manche mit Kindersitz. Die Gemeinde hat sich zum Gottesdienst versammelt. Ursula Wiebe, die sich hier seit mehr als 40 Jahren engagiert, spricht über Schmetterlinge: Gott liebe zwar auch Raupen, sagt sie. Doch er freue sich noch mehr, wenn Menschen den Mut zur Veränderung aufbringen und zu Schmetterlingen werden.
„Vertrauen wagen dürfen wir getrost“ singen daraufhin die mehr als 20 Versammelten. Alle tragen Mundschutz. Eine von ihnen ist Andrea Meyer. Sie fahre oft mit dem Rad zur Kirche, schaue sich die reichen Verzierungen an und lasse ihre Gedanken schweifen. „Wir leben von der Fülle.“

Eine Übersicht über das Netz der Radwegekirchen gibt es auf https://www.radwegekirchen.de/.