Mantra der Freiheit

Über den Mauerfall schreibt Pastor Tilman Baier. Er ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung MV.

epd

Wenn er an die Zeit vor 30 Jahren zurückdenkt, dann hat er die Rufe wieder im Ohr: „Wir sind das Volk!“ und „Keine Gewalt!“. Dann ist auch dieses zwiespältige Gefühl wieder da, diese Mischung aus Angst und Mut, aus Empörung und Triumph. Er erinnert sich wieder, wie er von diesen Rufen mitgerissen wurde. Wie sie seine letzten Zweifel zerstreuten, ob er zwischen den anderen Demonstranten an der richtigen Stelle sei. Wie diese Rufe ihn über sich selbst hinaushoben, als er sie, erst zögerlich, dann immer fester, selbst skandierte. Denn sie schweißten die Menschen zusammen, brachten auf den Punkt, was sie für ein paar Wochen im Herbst 1989 vereinte.

Später las er irgendwo, dass diese Rufe das Mantra der Friedlichen Revolution gewesen seien. Ein Mantra, so fand er im Lexikon, ist eine heilige Silbe, ein heiliges Wort oder ein heiliger Vers. Durch einen geistlichen Lehrer wird es dem Schüler zugesprochen. Er soll diese Worte immerfort präsent haben, sie stetig wiederholen. Nur so hat die spirituelle Kraft der Worte die Möglichkeit, ihn zu verändern.

Ein solches Mantra steht auch am Beginn des Predigttextes für diesen Reformationstag, das „Sch’ma Jisrael“, Kernsatz jüdischen Glaubens. „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer.“ Dann wird entfaltet, was daraus folgt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ Das Volk Israel wird kurz vor der Ankunft im Gelobten Land auf den Gott eingeschworen, der es aus der Knechtschaft in Ägypten und durch die Wüste bis hierher geführt hat. Es soll in seiner neuen, reichen Heimat nicht den Gott der Freiheit vergessen und den Göttern des Wohlstandes huldigen.

Das Ursprungserlebnis, das Menschen mit diesem Gott gemacht haben, war eine Befreiung aus leiblicher und geistiger Knechtschaft. Das haben die Reformatoren wieder ans Licht gebracht. Aus dieser Quelle schöpften auch die Rufe vor 30 Jahren auf den Demonstrationen nach den Friedensgebeten. Das Mantra für den Reformationstag 2019 könnte darum heißen: „Keine Gewalt, denn wir sind dein Volk, du Gott der Freiheit.“

Unser Autor
Pastor Tilman Baier ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung MV.

Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.