Lob des Protests

Über stilles Dulden schreibt Tilman Baier. Er ist Pastor und Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Mecklenburgischen & Pommerschen Kirchenzeitung.

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Der Predigttext des kommenden Sonntags lautet: „… weil mich diese Witwe aber nicht in Ruhe lässt, will ich ihr Recht verschaffen.“ aus Lukas 18, 1-8

Die letzten Monate ihres Lebens war sie tief unglücklich gewesen, dort im Zweibettzimmer im Seniorenheim. Sie, die Hochgebildete, Feinsinnige, hatte man – „leider, leider ist derzeit nichts anderes frei“ – zu einer dementen, aber äußerst agilen Frau gelegt, die ihr kaum eine ruhige Minute ließ. Ganz selbstverständlich war die Heimleitung davon ausgegangen, dass sie als Pfarrwitwe damit schon klarkommen würde. Und sie ertrug es tatsächlich ohne groß zu klagen, so wie sie jahrzehntelang unentgeltlich in der Gemeinde für viele und vieles da gewesen war und dann ihren Mann bis zu seinem Tod gepflegt hatte. Doch so blieb ihr einziger Wunsch, den sie noch hatte, unerfüllt – sich in Ruhe auf ihr Sterben vorbereiten zu können. Aber sie wollte keinen nerven, auch wenn sie genervt war. Andere hatten damit weniger Probleme: So die Frau, die schon von der einweisenden Ärztin als energisch und sozial unverträglich eingestuft worden war. Sie bekam sofort ein Einzelzimmer. Ungerecht, aber nachvollziehbar.

„Gib dich zufrieden und sei stille“, heißt es in einem alten Gesangbuchlied. Still dulden – das galt und gilt auch heute noch weithin als christliches Ideal, dem besonders Frauen zu entsprechen haben. Klaglos ist das eigene Schicksal als das, was Gott schickt, anzunehmen.

Ungerechter Richter

Umso erstaunlicher ist es, dass Jesus zum Protest aufruft, Mut macht, Gott in den Ohren zu liegen angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt. Nicht nur aus Solidarität. Nicht nur stellvertretend für die vielen Verstummten, still Leidenden. Auch in eigener Sache ist Protest erlaubt. Für Jesus ist klar: Wenn schon ein ungerechter Richter dem nervigen Quengeln einer armen Witwe nachgibt – warum sollte Gott sich den Klagen seiner geliebten Kinder verschließen?

Sicher: Lerne zu klagen, ohne zu leiden, ist hier nicht gemeint. Aber die Klagen über all das, was im eigenen Leben und in der Welt verkehrt läuft, erreichen den göttlichen Richter – auch wenn sie hier keiner hören mag.

Unser Autor
Tilman Baier ist Pastor und Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Mecklenburgischen & Pommerschen Kirchenzeitung.

Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Dienstag.