Politiker unter Dauerstrom: Linke-Chef Pellmann redet offen über Alkohol, Stress und andere Tabu-Themen im Bundestag. Und fordert mehr Ehrlichkeit im Umgang mit der hohen Belastung.
Nach seinem Herzinfarkt fordert Linke-Fraktionschef Sören Pellmann einen offeneren Umgang mit Stress und Belastung in der Politik. “Viele Abgeordnete denken, das betreffe sie nicht”, sagte der 48-Jährige der “Welt”: “Krankheit ist in der Politik wie in der Gesellschaft ein Tabu, ob psychisch oder organisch, Abhängigkeit erst recht.”
Der Leipziger Bundestagsabgeordnete, der zusammen mit Heidi Reichinnek die Fraktion führt, hatte im Juli einen Herzinfarkt nach Fraktionsterminen in Nordrhein-Westfalen. Im Hotel habe er Druck in der Brust verspürt: “Meine Smartwatch zeigte einen Puls von 159 an. Keine Stunde nach meiner Ankunft in der Klinik lag ich auf der Intensivstation und war schon operiert”. Über einen Katheter sei ihm ein Stent in eine Arterie gesetzt worden, berichtete Pellmann weiter: “Das war krass. Hätte ich die Anzeichen nicht ernst genommen, hätte ich die Nacht wohl nicht überlebt.”
Zuletzt hatten der frühere SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sowie der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Roth gesundheitliche Gründe und die hohe Belastung als Gründe für ihren Rückzug aus der Spitzenpolitik benannt.
Politik bringe Risikofaktoren wie “ungesunde, unregelmäßige Ernährung, zu wenig Bewegung und Stress” mit sich, fügte Pellmann hinzu: “In Bundestags-Sitzungswochen hat man locker zehn, elf, zwölf Termine am Tag, keine Pausen, keine Auszeit. Man hetzt von Gespräch zu Termin zur Rede im Parlament.” Außerdem sei durch Soziale Medien das Gefühl stärker geworden, ständig erreichbar sein zu müssen.
Die Allgegenwärtigkeit von Alkohol verstärke die Gefahren von Dauerstress und öffentlicher Beobachtung noch, ergänzte Pellmann: “Man kann in Sitzungswochen von Empfang zu Empfang ziehen und Wein oder Bier trinken. Wenn man bei Abendempfängen ein Glas Wasser oder Saft trinkt, heißt es schnell: Der ist eine Spaßbremse. Oder: Der hat ein Problem mit Alkohol”, so der Linke-Politiker weiter: “Ich denke, es gibt hohe Dunkelziffer an Politikern, die eine Abhängigkeit entwickeln.”
Der Fraktionsvorsitzende habe lange überlegt, ob er seine Erkrankung überhaupt öffentlich machen solle, berichtete er weiter: “Im Büro gab es andere Meinungen: Du zeigst damit Schwäche, du wirkst nicht belastbar, der politische Gegner könnte das ausnutzen.” Doch bis auf wenige Social-Media-Beiträge dieser Art habe es nur Zuspruch und Genesungswünsche gegeben.