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Ich lasse mir die Bibel nicht vergiften!

Die Bibel ist Ermutigung für marginalisierte Gruppen, schreibt Tash Hilterscheid in ihrer Kolumne. Es gibt viele Geschichten, die von queeren Menschen und Lebensentwürfen berichten.

Die Bibel macht queeren Menschen Mut, sagt Tash Hilterscheid
Die Bibel macht queeren Menschen Mut, sagt Tash HilterscheidImago / Godong

Die zunehmende Lautstärke fundamentalistisch christlicher Narrative führt dazu, dass ich mich zu oft mit Bibelstellen befassen muss, die verwendet werden, um queere Lebensweisen als sündhaft darzustellen. Es sind biblische Passagen, die aus dem historischen und textlichen Zusammenhang gerissen werden und dann menschenverachtende politische Entscheidungen begründen sollen. Dieser missbräuchliche Umgang mit biblischen Überlieferungen vergiftet zunehmend meinen eigenen Zugang zur Bibel.

Doch ich werde mir die Bibel nicht vergiften lassen! Aus diesem Grund möchte ich von biblischen Überlieferungen erzählen, die von der Befreiung aus gewaltsamen Systemen berichten. Und die vielleicht weniger bekannt sind.

Die Taufe eines Eunuchen

Eine für queere Menschen wichtige Passage steht in der Apostelgeschichte. Dort erfahren wir von der Taufe eines äthiopischen Eunuchen. Diesen Menschen wurden die äußeren Geschlechtsorgane entfernt, und daher lebten sie außerhalb des heteronormativen Standards. Manchmal waren es Sklav*innen, manchmal waren es aber auch Menschen, die sich bewusst für diese Lebensweise entschieden hatten oder genau so geboren wurden. Es waren Menschen, die wir heute vielleicht als trans, nichtbinär oder intergeschlechtlich bezeichnen würden.

Tash Hilterscheid schreibt in einer neuen Kolumne über queeres Leben
Tash Hilterscheid schreibt in einer neuen Kolumne über queeres LebenRebekka Krüger

Das Römische Reich verabscheute Eunuchen. Sie wurden zum Feindbild ihrer Gesellschaft stilisiert, weil sie weder männlich noch weiblich einzuordnen waren. So war es ihnen auch untersagt, jüdische G*ttesdienste zu besuchen.

Der Diakon Philippus begegnete einem solchen Menschen. Dabei hat er sich nicht von Vorurteilen leiten lassen, hat den Menschen nicht eingeordnet und nicht nach geschlechtlichen Normen gefragt. Warum auch? Philippus hat gespürt, dass dieser Mensch von einem tiefen Glauben getragen war, und daher sprach einfach nichts dagegen, ihn zu taufen.

Wer war Paulus wirklich?

Eine andere Person, die oft für menschenverachtende Aussagen benutzt wird, kann ebenfalls queer gelesen werden: Paulus. Denn auch er hat der gesellschaftlichen Norm des Römischen Reiches nicht entsprochen. Immer wieder beschreibt er sich mit weiblich konnotierten Bildern und betont seine Verletzlichkeit und Zartheit. Er war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Er entsprach damit in keiner Weise dem männlichen Stereotyp. Aus diesem Grund wurde Paulus später oft eine Behinderung oder Krankheit unterstellt. Seine Persönlichkeit wurde im Grunde pathologisiert, nach dem Motto: „Mit dem stimmt doch was nicht!“ – Das kennen queere Menschen ja leider allzu gut.

Und dann gibt es noch eine Person, von der selten gesprochen wird, weil ihre Geschichte nicht in den Kanon der Bibel aufgenommen wurde. Es ist Thekla, eine Schülerin von Paulus. Von Anfang an lauscht sie Paulus’ Predigten und ist völlig fasziniert von ihm. Schließlich schneidet sie sich die Haare ab, tauft sich selbst und verlässt ihre Familie und ihren Verlobten, um Paulus zu folgen. In männlich konnotierter Kleidung predigte und taufte Thekla unzählige Menschen. Sie ermutigte insbesondere Frauen, zu lehren und zu taufen.

Ermutigung für Entmächtigte

All diese Menschen fühlten sich durch die christliche Botschaft Jesu gesehen und gestärkt. Sie fühlten sich ermutigt, ihren Weg zu gehen, zu sich selbst zu stehen, auch wenn die gesellschaftlichen Normen ihnen keinen Raum zugestehen wollten.

Was ich hier betonen möchte, ist, dass der Ursprung und Anfang des Christentums explizit von denen getragen und weitergegeben wurde, die Angehörige marginalisierter Gruppen waren. Deshalb gibt es Sätze wie „die Letzten werden die Ersten sein“. Es geht um eine Umkehrung der Machtverhältnisse. Das ist die Ermutigung, die an all diejenigen geht, die in unserer Gesellschaft entmächtigt werden sollen. Das ist die christliche Botschaft!

Tash Hilterscheid ist die neue Pfarrperson für queersensible Bildungsarbeit der Nordkirche. Ab sofort schreibt Hilterscheid jeden Monat in einer Kolumne über queeres Leben.