Kirche ist gerufen, die Globalisierung des Glaubens zu leben

16. Sonntag nach Trinitatis, Gottesdienst zum Abschluss der Partnerschaftskonsultation der Nordkirche, Predigt zu Lk. 16, 19-31

Es war einmal ein reicher Mann… Die Geschichte beginnt wie ein Märchen, entwickelt sich aber schnell zu einem harten Drama.
Dramatik erleben wir auch jetzt hier in der St. Michaeliskirche. Dramatisch ganz besonders für die Roma, die unter uns sind, die eine Reise der Hoffnung begannen und sich jetzt um diese Hoffnung betrogen fühlen. Sie sehnen sich nach einem Platz in Abrahams Schoß.
Der Reiche in unserer Geschichte hat keinen Namen. Er steht für alle Wohlhabenden, die leben wie er. Zugleich ist er eine Person, aber namenlos, weil kalt und herzlos. Er kümmert sich nicht um den, der arm ist – Bischof Kahutu hat darauf hingewiesen.
Vor seiner Tür liegt ein elendiger, armer Mann. Lazarus. Der hat einen Namen. Er steht für alle Lazarusse dieser Welt. Steht für viele Einzelne, die leiden, und auch für die Volksgruppen und Schichten von Diskriminierten und Vergessenen, für die Verlierer der Moderne, für die Opfer einer ungesteuerten Globalisierung. All jene, an deren Seite Christus steht und die er uns ans Herz legt.
Kontraste werden sichtbar. Der eine residiert in einer Villa. Der andere liegt auf der Straße. Der eine feiert üppige Gelage, der andere „begehrt“ davon nur einen Bissen Brot – erhält ihn aber nicht. Er wird ihm verweigert. Gleich am Anfang wird die große Kluft sichtbar, von der die Geschichte später spricht. Die Kluft, die sich auftut zwischen den Reichen und den Armen, auch zwischen den reichen Ländern und den armen Ländern dieser Einen Welt. Und in dem „Begehren“, das verweigert wird, zeigt sich ein Grundkonflikt unserer Welt. Der Wunsch der armen Länder nach Teilhabe an der hohen Lebensqualität der modernen Industriestaaten, der den meisten Menschen verwehrt ist. Ein Konflikt, der sich in den einzelnen Gesellschaften wiederholt – auch bei uns. Lazarus ist mehrfach benachteiligt: bettelarm, obdachlos, lahm und krank; er hat Aussatz. Die Gesellschaft hat ihn ausgesetzt. Und da weitet sich der Blick der Verantwortung: Es ist nicht nur ein Reicher, der versagt, es ist eine ganze Gesellschaft von Wohlhabenden, die zuschaut und nichts tut.
Lange, zu lange haben wir zugeschaut, wie Kriege sich wieder in vielen Regionen der Welt ausbreiten. Zu lange haben wir zugesehen, wie Menschen zur Flucht gezwungen wurden und noch werden – weil sie in ihrer Heimat dem sicheren Tod ins Auge sehen. In riesigen Flüchtlingslagern an den Grenzlinien der Konfliktzonen zusammengepfercht, unversorgt, hungernd, ausgenutzt und angefeindet. Und als sie sich dann zur Flucht entschlossen, um ihr Leben zu retten und noch einmal Zukunft zu gewinnen, alles was sie hatten verkauften, sich Schleuserbanden „anvertrauen“ mussten, auf qualvollen Wegen über das Mittelmeer, über die Balkanroute kamen – viele starben, viele ertranken – erst da wurde uns langsam klar, dass sie die ganze Zeit schon vor unserer Tür gelegen hatten.
Jetzt geschieht ganz viel Hilfe, bei uns, und in vielen anderen Ländern auch. Ich bin dankbar für die Vielen in Kirchen und Diakonie oder Caritas und in zivilgesellschaftlichen Initiativen, die ihre Herzen und Türen öffnen für die Flüchtlinge. In den letzten zwei Wochen haben wir immer wieder Mut machende Bilder von Willkommenskultur bei uns gesehen: Europäische Werte sind das: gelebte Kultur der Offenheit, Willkommenskultur, nicht Abschottung. Ich bin dankbar für alle, die teilen mit denen, die verzweifelt sind und nicht wissen wohin.
Anders als der reiche Mann in der Geschichte sind  wir dabei, unsere Verantwortung zu begreifen, sind dabei, umzudenken. Die äußersten Wellen der globalen Migration, die uns erreichen, sind keine Episode. Sie werden unser Land verändern. Es ist unsere Aufgabe, diese Veränderung. Dass sie Leben und Zukunft gibt denen, die von weit her bei uns ankommen und denen, die schon immer hier waren. Bischof Kahutu hat recht: Die Sünde des reichen Mannes ist nicht sein Vermögen. Zur pauschalen Reichenschelte taugt die Geschichte nicht. Was ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Genick bricht – das ist seine Gleichgültigkeit, seine Herzlosigkeit, wie er teilnahmslos dem menschlichen Elend zuschaut.
Am Ende bittet er Abraham darum, Lazarus möge wieder zu irdischem Leben erweckt werden. Er soll zu seinen fünf Brüdern gehen. Sein Anblick würde sie zur Barmherzigkeit bekehren. Brauchten wir nicht auch die Hilflosen, die Hungernden, die Unbekleideten direkt vor unsere Haustür, damit diese wunderbare Welle der Hilfsbereitschaft begann?
Abraham weist auf Mose und die Propheten. Dort steht alles Nötige. Wer im Glauben unterrichtet wurde, kann sich nicht damit entschuldigen, er habe nie etwas von Nächstenliebe gehört. Die zentrale Kategorie des Glaubens ist das Hören, nicht das Schauen, das Vertrauen, nicht das Anfassen, das sich auf Jesus Einlassen, nicht das Wunder. Dieses Vertrauen auf das Wort ist Grundton im Alten und im Neue Testament. Das verbindet Juden und Christen. Das verbindet uns auch mit Muslimen. Unsere drei Religionen ehren Abraham als ihren Stammvater.
Für uns Christen ist Abraham der Stammvater des Glaubens, weil er auf ein Wort von Gott hin loszog und alles hinter sich ließ. Auf das Wort hin, das in Jesus Fleisch wird, Mensch wird, solidarisch ist mit jedem, der leidet. Die Begegnung mit Jesus, mit der Erscheinung Gottes in der Welt – das  verändert unsere Wege. Kein Mirakel, kein Wunder. Wer Jesus entdeckt, wird frei für seine Wege, wird frei, Gutes zu tun und das Beste zu suchen, damit unser Glaube und unser Reichtum allen Menschen dienen, niemanden ausgrenzt und diskriminiert wird; befreit zum Helfen, für eine Willkommenskultur – nicht weil wir im Flüchtling von heute den Facharbeiter von morgen sehen. Weil wir in jedem Menschen Jesus Christus selber sehen, der uns sagt: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben.“
Jesus hat uns frei gesprochen, zu lieben, einander anzunehmen. Darum sind wir nicht frei, den Menschen, die vor unserer Tür stehen, Gastfreundschaft zu verwehren. Wir sind nicht wirklich frei, nicht zu teilen, was wir haben: Geld und Brot, Frieden und Freiheit.
Die Geschichte ermahnt: Daran entscheidet sich euer Schicksal und das der Welt: ob ihr das an euch ergehende Wort hört und wie ihr darauf reagiert. Sie schärft uns den Ernst des Lebens in dieser Welt ein. Ob uns die Vision von Abrahams Schoß leitet oder ob wir mit der Welt zur Hölle fahren – das liegt an uns. Unerträglich heiße Flammen, übergroßer Durst, das sind Symbole von Angst und Verzweiflung, von zusammenbrechenden Lebensmöglichkeiten, die Menschen in vertrockneten Landstrichen Afrikas erleben. Die Hölle kann überall auf uns warten. Sie ist aber vor allem dort, wo der Mensch seinem Mitmenschen die Menschlichkeit verweigert.
Die Menschen, die hier im Michel Zuflucht gesucht haben, werden versorgt, werden begleitet. Ihnen wird zugehört. Von der Kirchengemeinde und vielen anderen. Für sie ist das zu wenig. Sie sind verzweifelt. Wollen mehr. Ich empfinde es sehr intensiv und fühle mit ihnen. Zugleich führt uns diese Situation die Grenzen unserer Möglichkeiten vor Augen. Wir Kirchen fordern seit Langem ein verändertes Asylrecht, ein Einwanderungsgesetz und mehr Menschlichkeit für die hier gestrandeten Migranten – und handeln so. Wir leisten Beiträge, das geltende Recht weiterzuentwickeln, dürfen es aber nicht brechen. Wir appellieren an die Behörden, die Politiker und die Gesellschaft insgesamt, den Männern, Frauen und den vielen Kindern hier zu helfen. Wissend um die Begrenztheit unserer Möglichkeit. Wir bitten die Menschen, die hier Zuflucht suchen, uns das zu vergeben. Der Kirchengemeinde und allen, anderen, die helfen, ihre Lage etwas erträglicher zu machen, danke ich dafür sehr herzlich.
Wir kennen die Sehnsucht und die Hoffnungen und wissen: wir können sie nicht alle erfüllen. Aber gerade diese Erkenntnis lässt uns nicht ruhen oder zurücklehnen, sondern sie lässt uns aufstehen gegen Unrecht und arbeiten für das Recht aller Menschen – bis alle in ihren Heimatländern in Frieden und Würde leben können. Der Predigttext erzählt von einem Lazarus, der bar jeder menschlichen Würde dahinvegetiert, dem kein Mensch, nur noch Hunde ein Zeichen der Zuwendung entgegenbringen. Gleichzeitig ruft sie uns auf, jedem Lazarus vor unserer Tür Hilfe zu leisten – unabhängig davon, wie groß sein Leid ist. Wir stehen als Christinnen und Christen und als Kirche nicht außerhalb des Rechts und auch nicht darüber. Aber wir stehen in der Verantwortung dafür, dass das Recht und Gerechtigkeit so zum Zuge kommen, dass die Würde jedes Menschen geachtet ist und bleibt.
Leben in Abrahams Schoß: das ist kein Bild für ein Leben in Luxus. Und das beschreibt kein Privileg Einzelner, die es sich leisten können. Es beschreibt in der Schrift ein Leben in der Geborgenheit bei Gott, in der Würde, die unantastbar jedem Einzelnen geschenkt ist. Leben in Abrahams Schoß ist not for sale, sondern ein Recht für alle Menschen. Überall.
„Gemeinsam den Weg der Gerechtigkeit gehen“  – so lautet das Motto der Partnerschaftskonsultation. Wir sollen  in der Nachfolge Jesu unseren Blick weiten. Ihn noch stärker richten auf die Länder, die von dem ökonomischen Fortschritt abgekoppelt werden. Noch mehr verstehen lernen, dass unser Reichtum hier zur Armut dort beiträgt.
Angesichts der Situation in der Welt, angesichts von Krieg und Gewalt, Vertreibung und Hunger, werden unsere bewährten christlichen Netzwerke in aller Welt dringend gebraucht: Die großen konfessionellen und ökumenischen Zusammenschlüsse, die konkreten Partnerschaften zwischen Kirchengemeinden, und immer wieder auch brauchen wir das gemeinsame Hören auf Gottes Wort. Wie es acht Tage auf dieser Konsultation geschehen ist. Willkommenskultur ist das Eine. Die internationale Friedensarbeit und die gegenseitige geschwisterliche Unterstützung der Schwestern und Brüder in den Kontinenten ist das Andere! Und die Umkehr zu einem neuen Lebensstil hier das Dritte.
Kirche ist gerufen, die andere Globalisierung zu leben.  Die Globalisierung des Glaubens, der damit rechnet, dass er Grenzen überwindet, Zäune abbricht, damit der Friede, den Jesus bringt, sich ausbreiten kann wie ein Dach über unser Leben und ein Boden unter den Füßen zugleich. Damit alle Menschen geborgen sind in Abrahams Schoß.
Amen.