„Das Böse scheint ausgemacht“

Der Theologe Eugen Drewermann spricht über den Krieg in der Ukraine und Wege zum Frieden. In der Botschaft Jesu sieht er die entscheidende Lösung.

Eugen Drewermann hat eine klare Meinung zum Krieg in der Ukraine
Eugen Drewermann hat eine klare Meinung zum Krieg in der UkraineFriedrich Stark / epd (Archiv)

Herr Drewermann, der Krieg in der Ukraine erschüttert viele. Plötzlich ist eine Eskalation da, die man in Europa so nicht mehr für möglich gehalten hat. Sie befassen sich ein Leben lang mit den Fragen von Krieg und Frieden und sind christlicher Pazifist. Wie beurteilen Sie die aktuellen Ereignisse?
Eugen Drewermann: Das eine ist das mehr als berechtigte Entsetzen und Grauen angesichts des Leidens, das der ukrainischen Bevölkerung durch diesen Krieg zugefügt wird. Dagegen revoltiert alles. Das ist menschlich mehr als gut verständlich. Auch dass die Hilfsbereitschaft so groß ist, sogar die Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge wie noch nie – das alles ist hoch zu loben. Auf der anderen Seite ist aber natürlich auch ein Unterschied beobachtbar: Wir mobilisieren jetzt gegen Russland als das ausgemachte Böse und schieben der Politik dort absolut die Schuld für die Ereignisse zu. Selbst das ist ein Stück weit verständlich. Auch mich hat nicht nur enttäuscht, sondern entsetzt, dass nach Tagen der Erklärung, es sei kein Krieg gegen die Ukraine beabsichtigt, dann doch der Einmarsch befohlen wurde.

Was wir jetzt miterleben, ist für Krisen- und Angstsituationen wiederum verständlich: Es polarisiert sich die Mentalität in einem Aggressionsmodus nach der Devise „Man muss das Böse bekämpfen mit allen Mitteln“. Das Böse scheint ausgemacht, es ist lokalisiert, es ist die Gegenseite – und umgekehrt sind wir die Guten und die Richtigen. An dieser Stelle müsste die Nachdenklichkeit beginnen. Es gehört schon zum Vorlauf eines jeden Krieges, dass diese Polarisierung in Freund und Feind, in Richtig und Falsch, Gut und Böse, Engel und Teufel über die Medien angeheizt wird. Das ist mit Blick auf Russland seit vielen Jahren der Fall.

Was genau wurde da in Bezug auf Russland angeheizt?
Was man Russland vorwirft, ist eigentlich, dass es nicht mehr damit einverstanden ist, die Nato-Osterweiterung Zug um Zug weiter miterleben zu müssen, die auch bis in die Ukraine hinein geht, jetzt neuerdings auch in Georgien und Moldawien passiert – das soll so weitergehen. Russland fühlt sich von der Nato betrogen. Wir müssen uns erinnern: 1989 waren es die Russen, war es Michail Gorbatschow, der vorschlug, Gesamteuropa vom Ural bis zum Atlantik zu demilitarisieren. Das wäre ein wunderbares Angebot gewesen. Darauf einzugehen hätte eine entschiedene Wende der Weltgeschichte bedeutet. Wir hatten zum ersten Mal den Frieden auf dem Tisch liegen, wir hätten nur zugreifen müssen. Dann hat man Russland versprochen, die Nato würde sich keinen Zentimeter gen Osten ausdehnen. Das alles ist systematisch gebrochen worden.

Damals hatte die Nato noch 16 Mitglieder, heute hat sie 30. Und dann muss man sehen, wie aufgerüstet wird. Russland gibt pro Jahr etwa 80 Milliarden Dollar für Rüstung aus. Das ist unsinnig viel. Aber wenn wir, die Deutschen, jetzt mal aus der Hand 100 Milliarden Euro für Aufrüstung in zwei Jahren versprechen, ist das ein Fünftel mehr als Russland aufrüstet in einem Jahr. Und die Amerikaner stehen bei über 700 Milliarden Dollar jedes Jahr, die Nato kommt hinzu mit über 300 Milliarden. Wir geben im Westen für Rüstung das 13-fache von dem aus, was Russland ausgibt. Das sind die Proportionen. Also wer hätte da Grund, sich vor dem anderen zu fürchten?

Kateryna Bidniuk (39) packt an: Die Ukrainerin hilft in der ukrainisch-katholischen St.-Wolodymyr-Kirche in Hannover
Kateryna Bidniuk (39) packt an: Die Ukrainerin hilft in der ukrainisch-katholischen St.-Wolodymyr-Kirche in HannoverNancy Heusel / epd

Was wäre die Alternative?
Wir müssen die Angst des Anderen verstehen, die wir ihm machen, weil wir vorgeblich oder wirklich Angst vor ihm haben. Dieser Teufelskreis muss einmal gebrochen werden. Und jetzt rede ich nicht mehr politisch oder historisch, sondern ich meine das in allem Ernst als Christ: Frieden kann nicht kommen in der Politik der Stärke, die die Nato seit ihrer Gründung 1949 mit immer scheußlicheren Waffen – Atombomben, Wasserstoffbomben, Neutronenbomben, biologischen Waffen, chemischen Waffen, konventionellen Waffen, Napalm als Dauerregen über Vietnam – unendlich weiter vervollständigt. So wird nie Frieden sein, aus diesem Diktat der Stärke. Es ist aber alles, was unseren Politikern einfällt und es ist biblisch gesehen absolut verkehrt. Da wünschte ich mir sehr von den Kirchen, dass sie daran erinnern, dass Jesus am Palmsonntag genau das Gegenteil demonstriert hat: Man erwartete einen starken König in Israel, ein zweites davidisches Großreich und dachte, dass Jesus genau das bringe und die Römer vertreibe aus dem Heiligen Land. Aber er führt die Weisung aus dem Propheten Sacharja auf: Frieden kommt durch einseitige Abrüstung; die Bogen zerbrechen und die Kriegswagen verbrennen.

Und dann sagt der Prophet: Wenn je ein Mensch kommt, der von Gott gesandt ist, dann wird er auf einem Esel friedfertig einreiten in Jerusalem. Das macht Jesus. Es ist das „Nein“ zu der gesamten Machtpolitik der Drohkulisse, der Angstmaschinerie, mit der wir Angst bewältigen nur durch Angstverbreitung – das ist eine unselige Mechanik in unserer Psyche, die wir endlich durch Vertrauen, durch Gespräch und Berücksichtigung dessen, was wir dem anderen antun in eigener Angst, aufarbeiten müssen. Und da wäre die Stimme der Kirche dringlich nötig. Frieden kommt nicht aus der Politik der Stärke, sondern ganz im Gegenteil.

Sie sprachen den bestimmten westlichen Blick und die Rolle der Medien in Zeiten des Krieges und Vorkrieges an.
Denken wir nur daran, dass die USA seit 2001 sechs arabische islamische Staaten bombardiert haben, mit Millionen Toten. Das alles war unseren Medien fast vollkommen egal. Wir haben nicht einmal das Geld gehabt für die Flüchtlinge, die von Syrien kommen und auf den griechischen Inseln sitzen. 2 Milliarden hätten genügt, wenigstens jetzt im fünften Winter den Menschen dort eine Unterkunft zu gewähren. Das war nicht möglich, weil wir kein Geld hatten. Aber jetzt für Rüstung mal eben 100 Milliarden zusätzlich. Wir haben kein Geld, die Flüchtlinge aus Libyen aufzunehmen – wir lassen sie im Mittelmeer ertrinken –, aber Geld für Rüstung haben wir. Dieser Wahn muss irgendwann beendet werden.

Zehntausende sind am Jungfernstieg zusammengekommen
Zehntausende sind am Jungfernstieg zusammengekommenBischofskanzlei

Trotzdem ist derzeit die militärische Logik die beherrschende. Stimmen, die sich für Pazifismus stark machen, werden der Inhumanität bezichtigt. Es gilt als ethische Verpflichtung, für Waffenlieferungen und Aufrüstung einzutreten. Wie wäre aus dieser Vorherrschaft militärischen Denkens herauszukommen?
Man hat uns eigentlich in der Zeit des Kalten Krieges in gewissem Sinn belogen. Man hat uns gesagt, wir brauchen eine starke Armee, um Russland abzuschrecken, um Feinde abzuschrecken und wir lernen das Entsetzliche der Kriegführung eigentlich nur, um nie Krieg führen zu müssen, eben weil wir den Aggressor abschrecken durch die Scheußlichkeit unserer Methoden und unserer Waffen. Das hat man geglaubt in der Zeit des sogenannten Kalten Krieges. Der ging 1989 definitiv zu Ende. Das heißt, er hätte zu Ende gegangen sein können. Dann aber wurde er weitergeführt von den Amerikanern und jetzt stand man vor einem Erklärungsdefizit: Wie kann man noch begründen, dass wir so weitermachen? Ich habe damals in einer evangelischen Zeitung geschrieben: „Ab sofort werden wir töten müssen.“ Bis dahin gab es die Vorgabe eines moralischen Splittings: Wir üben das Töten, um nicht töten zu müssen. Wenn wir aber jetzt so weitermachen, werden wir töten müssen. Wir werden Auslandseinsätze haben, die genau das, was wir üben, zur Anwendung bringen.

Und dieses Legitimationsdefizit konnte man ja nur moralisch füllen, man brauchte Gründe, warum wir beispielsweise auf dem Balkan aktiv werden müssen. Diese Gründe waren herbeigelogen. Anstatt endlich zu sagen, die Moral nötigt uns, jeden Krieg zu vermeiden durch Abrüstung, durch Verständnis für die Gegenseite und die NATO für genauso überflüssig zu erklären wie den Warschauer Pakt, hat man ganz im Gegenteil den Kalten Krieg für gewonnen erklärt und wollte durch Ostausdehnung all die Gebiete, aus denen sich die Sowjetunion gerade nach ihrem Scheitern zurückgezogen hatte, für den Westen okkupieren. Was wäre, man hörte einmal zu, was der andere sagt, was in ihm vor sich geht, was er meint?

Was sollten die Kirchen tun?
Die Kirchen sind in einer dringenden Verpflichtung zu widersprechen. Die Botschaft Jesu lautet eindeutig: Nein zu einer Politik des Starkseins, die dem Anderen die eigene Art des Friedens diktiert. So ist der Frieden nie gekommen. Er kommt auch nicht nach dem nächsten Krieg. Auch nicht nach dem endlich richtigen Krieg. Es kann keine moralische Verantwortung zum Töten von Menschen geben. Es gibt im Vorlauf jeden Krieges diese Polarisierungen. Denn wir können Menschen guten Gewissens nur töten, wenn es gar keine Menschen mehr sind, wenn sie Ungeziefer sind, Unmenschen sind, wenn sie die Bösewichte schlechthin sind, die Inkarnation des Teufels. Wir dürfen dieser Propaganda, die Moral in ein Kampfmittel umwandelt, nicht länger glauben. Wenn sie wieder anfangen zu sagen „Wir sind die Guten“ und „Drüben sind die Bösen“, sind wir dabei, gründlich etwas falsch zu machen und uns selber zu verlieren.

Wie kommt man aus solchen Teufelskreisen heraus?
Zunächst muss man sehen, dass derzeit einzig und allein die militärische Logik hochgefahren ist. Die Sache ist klar, es heißt: „Wir gegen Putin“, gegen das klar zu verortende Böse. Wenn man den Frieden wirklich wollte, könnte man ihn heute Nachmittag noch haben. Man müsste von Seiten der NATO erklären, die Ukraine wird nicht Teil der NATO und wir rüsten sie auch nicht weiter gegen Russland auf. Wir erwarten, dass das Gebiet im Donezk nicht weiter bombardiert und mit Angriffen belegt wird – bei einer Bevölkerung dort, die mit der Zentralregierung in Kiew nichts mehr zu tun haben will. Wir wollen wirklich unsere eigene Macht dafür einsetzen, dass Frieden sei. Genau davon ist aber nicht die Rede. Man kann es sich ja wieder leisten.


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Und wie sieht es mit der Seite Russlands aus?
Was ich nicht verstehe an der Politik Russlands im Moment ist, wie man in diesen Krieg aus militärischer Logik hat einsteigen können. Zu erwarten steht, dass die Amerikaner die Ukraine aufrüsten werden für einen Partisanenkrieg. Man kann den Russen einen Igel ins Bett legen, bei dem sie sehr schlecht schlafen werden. Und damit hat man einen Propagandazweck, einen weiteren Durchmarsch, man kann noch verstärkter als wie es schon geschieht, die Westgrenze Russlands militärisch ausbauen und man hat die Bevölkerung wie einen Mann hinter sich. Noch nie war Europa derart in Kriegsbereitschaft, wie es jetzt der Fall ist.

Wie sollten Christen mit den aktuellen Fragen nach Krieg und Frieden umgehen?
Moralisch sind alle Werte in Richtung Krieg gesteuert. Wir müssen Krieg führen, weil wir die Guten sind im Kampf gegen die Bösen. Das Einzige, was mir bleibt, das ich dringlich mein Leben lang vertrete, ist die religiöse Option. Die ganze Weltgeschichte, solange wir sie kennen, besteht in dieser Paranoia: „Wir müssen stark sein aus Angst, dass jemand uns angreift.“ Kein Mensch ist offensichtlich willens und fähig, die eigene Angst zu überwinden durch Vertrauen und zu reden mit demjenigen, den er fürchtet. Selbst Tiere kennen das, in der Weise wie sie schauen: Sind die Augen angstgeprägt, machen sie demjenigen Angst, der sie sieht. Aus dieser Mechanik müssen wir heraus. Bei Tieren ist das eine momentane Reaktion, die zeitlich begrenzt ist und wenig Schaden anrichtet. Wir Menschen haben den Verstand dazu gebraucht, aus dem Problem etwas grundsätzlich Systematisches zu machen: Wir müssen in jeder Weise stärker sein als jeder potenzielle Gegner.

Es ist ein Wahnsinn der menschlichen Geschichte, eine Paranoia, auf die Jesus antworten wollte. Lesen wir das Neue Testament, sagt er in Johannes 14: „Ich gebe euch einen Frieden, wie die Welt ihn gar nicht geben kann.“ Der Friede der Welt ist Abschreckung – „Balance of Power“, „Gleichgewicht der Scheußlichkeiten“, permanente Bedrohungen, die sich immer höher schrauben. Das ist kein Frieden, das ist die permanente Angst. Dagegen erzählt die Legende im Neuen Testament, haben die Engel über den Fluren von Bethlehem verkündet: „Heute ist der Heiland geboren. Friede auf Erden den Menschen, die an Güte glauben.“ Das hat Jesus in die Welt getragen und so stimmt es. Dann ist jeder Krieg ein Verbrechen, er hat überhaupt keine moralische Rechtfertigung. Das Töten von Menschen ist nicht das Retten von Menschen. Wir müssen den Kernpunkt, die Angst, die der Staat selber organisiert, instrumentalisiert und für Machtzwecke ausbeutet, widerlegen, indem wir als Christen sagen: „Wir glauben das alles nicht mehr.“ Man kann nur mit Vertrauen, mit innerer Stärke den Krieg überwinden.

So hat das auch Reinhold Schneider 1936 in einem Gedicht ausgedrückt: „Allein den Betern kann es noch gelingen / Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten …“
Das ist mein Alptraum aus Jugendjahren, dass Reinhold Schneider nicht mehr auf dem Katholikentag sprechen durfte, weil er gegen die Aufrüstung der Bundeswehr war und gesagt hat, wenn wir wieder eine Armee einführen, werden wir auch gezwungen sein, militaristisch zu denken, wir ändern unseren Charakter, wir fangen an zu theoretisieren, wann ein Krieg wieder gut oder schlecht sein könnte. Er hatte lediglich Skrupel säen wollen, dass es nur zehn Jahre nach dem Desaster des Krieges mit neuen Vorwänden wieder in die militärische Richtung geht. Diese leise Stimme von der Tragik des Politischen im Angesicht der Gnade durfte Reinhold Schneider nicht mehr sprechen, weil es nicht erwünscht war und der Papst erklärt hatte, kein Katholik habe das Recht, sich auf sein Gewissen zu berufen und den Wehrdienst zu verweigern. So weit kann Angst gehen – die totale Mobilmachung unter Gewissenszwang. Es ist mein ganzes Leben, dass ich genau dagegen protestiere.

Wir müssen aus der Angstmacherei endlich herauskommen, aber das will die Politik nicht, ja, sie besteht geradezu darin. Das ist natürlich keine Lösung. Auch nicht mit Moral, die ist sofort vereinnehmbar von Seiten der Immer-Richtigen. Das führt immer zur Aufrüstung. Es gibt nur die eine Lösung und die ist religiös und sie steht im Neuen Testament seit 2000 Jahren griffbereit. Ich sage es mit Bernhard Shaw: „Ich höre dauernd, dass man mit der Bergpredigt keine Politik machen kann, aber dann versucht es doch wenigstens ein Mal.“

Dieses Interview ist zuerst erschienen bei „Der Sonntag – Wochenzeitung für die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens“.