„Ich war ein sozialer Krüppel“

Henning Müller hat sein ehrenamtliches Engagement im Ruhestand entdeckt. „Früher“, sagt der 80-Jährige, „war ich ein sozialer Krüppel, habe mich nicht um andere gekümmert, denen es nicht so gut geht.“

Henning Müller hilft seit 20 Jahren Personen am Göttinger Bahnhof.
Henning Müller hilft seit 20 Jahren Personen am Göttinger Bahnhof.Bahnhofsmission

Seit 20 Jahren ist Henning Müller immer montags bei der Bahnhofsmission im Einsatz. Etwas anderes kann er sich gar nicht mehr vorstellen. Zu verdanken hat er es seiner Frau, die sich ehrenamtlich im Hospiz engagiere und ihm gezeigt habe, wie schön es sei, andere Menschen zu unterstützen.

Vor Kurzem feierte Henning Müller in der Bahnhofsmission Göttingen 20 Jahre ehrenamt­liches Engagement. Dazu haben ihm der Leiter der Bahnhofsmission, Andreas Overdick, und sein Stellvertreter Matthias Schökel gratuliert und eine Dankesurkunde überreicht. „Ehrenamt ist die Bodenplatte, auf der sich Kirche aufbaut. Ohne diese Grundlage wären die meisten Arbeitsfelder hier nicht möglich“, ist Overdick überzeugt.

Henning Müller engagiert sich gern für andere

Immer montags von 6.30 Uhr bis 12.30 Uhr beginnt seine Schicht in der Bahnhofsmission. Dann kocht er als Erstes Tee und Kaffee und holt von den Ständen im Bahnhof die vom Vortag übrig gebliebenen Brötchen, süße Teilchen oder Kuchen. „Ich betreue zwei Gruppen“, sagt Müller, der Ende des Monats seinen 81-jährigen Geburtstag feiert. Zum einen sind das Reisende mit körperlichen Einschränkungen, denen er beim Umsteigen hilft. Wenn sie einen längeren Aufenthalt am Göttinger Bahnhof haben, nimmt er sie mit in die Bahnhofsmission und versorgt sie mit Getränken.

Zum anderen betreut er Alkoholkranke und Drogenabhängige, die in die Bahnhofsmission kommen, dort Kaffee oder Tee trinken und sich aussuchen dürfen, ob sie lieber etwas Herzhaftes oder Süßes essen wollen. „Es tut gut, anderen Menschen zu helfen“, sagt Müller. Er bekomme immer etwas zurück, es sei ein Geben und Nehmen, wer etwas anderes behaupte, sei ein Heuchler. Er erfahre viel Positives.

Begegnungen, die bleiben

Beispielsweise habe er einmal eine Frau, die ihren schwer kranken Mann pflegte, zum Zug gebracht, weil sie sich im Urlaub erholen wollte. „Sie war so dankbar und zufrieden mit ihrem Leben, und sie vermisste ihren Ehemann, obgleich sie noch gar nicht richtig weg war.“ Er habe sich lang mit ihr unterhalten, und als er ihr den Koffer in den Zug hob, sagte sie: „Vergelt’s Gott“. „Wegen dieser besonderen Anerkennung, die sich bei mir vor allen Dingen in diesen zwei Worten widerspiegelte, fing erst ich an zu weinen, und dann die Dame. Wir nahmen uns in den Arm und waren auf eine gewisse Weise glücklich, dass wir uns begegnet waren.“ Eine Situation, die ihm auch heute, knapp 20 Jahre später, sehr präsent ist.

Natürlich hat Henning Müller nicht nur schöne Erlebnisse bei seiner Arbeit. Einmal, als er gerade eine Person zum Zug gebracht hatte, sah er einen Mann, der eine Frau gegen ihren Willen hochhielt und sie trotz Gegenwehr nicht wieder absetzen wollte. Henning Müller schritt ein und stellte den Mann zur Rede. „Ich hatte große Angst, dass er mich zusammenschlagen würde, aber er baute sich nur drohend vor mir auf und ging dann seiner Wege“, erinnert sich Müller.

„Ich bin auf jeden Fall religiöser geworden“

Sich für die Bahnhofsmission zu entscheiden fiel dem 80-Jährigen leicht. Der ehemalige Bundeswehrbeamte feierte mit dem Gaus-Weber-Orden 1999 110-jähriges Jubiläum. Die Spenden, damals 2500 Mark, wurden der Bahnhofsmission übergeben. Das war für ihn Ansporn zu helfen. „Es reizt mich, dass ich bei der freiwilligen Arbeit mit sehr unterschiedlichen Menschen zu tun habe und verschiedene Nationalitäten, Altersgruppen und Schicksale kennenlerne.“ Das mache bescheiden und auch demütig. Er müsse sich auf Menschen einlassen, von denen er sich früher abgewandt habe.

Ihn berühren Begegnungen wie die mit einer älteren Dame, die ihm einen Fünf-Euro-Schein in die Hand drückte und darauf bestand, dass dieses Geld nicht in die allgemeine Spendendose komme, sondern ausschließlich für ihn bestimmt sei. „Sie wurde richtig wütend“, erinnert sich Müller. Dem ehemaligen Bundeswehr­beamten ging es damals nicht ums Geld, wohl aber um die Anerkennung und Wertschätzung, die die Frau damit ausdrückte.

Der Leiter der Bahnhofsmission Göttingen, Andreas Overdick, freut sich, mit Henning Müller einen engagierten Ehrenamt­lichen in seinen Reihen zu haben. „Henning Müller hat mit seinem 20-jährigen Engagement die Bahnhofsmission entscheidend mit geprägt. Noch heute fließen seine Erfahrungen und Geschichten in die Entscheidungsfindung des Gesamtteams ein.“

In der Bahnhofsmission Göttingen arbeiten rund 20 Ehrenamtliche zwischen Anfang 20 und Mitte 80. Sie engagieren sich in vier Arbeitsbereichen: Reisehilfen, aktiver Bahnsteigdienst, das begleitete Kinderreiseprogramm „Kids on Tour“ und das Kümmern um die nicht reisenden und reisenden Gäste. Die Bahnhofsmission ist eine Abteilung im Diakonieverband Göttingen und eine Einrichtung des dortigen Kirchenkreises. Sie ist an den Gleisen 4/5 stationiert und montags bis freitags von 8 bis 18 Uhr sowie sonnabends von 10 bis 16 Uhr und sonntags von 11 bis 16 Uhr geöffnet.