„Ich denk‘ an Dich!“

Über Umarmungen durch die Sprache schreibt Rainer Neumann. Er ist Pastor im Ruhestand in Greifswald.

Der Predigttext des kommenden Sonntags lautet: „Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke.“ aus dem Philipperbrief 1, 3-11
Am Morgen meines ersten Examens lag Schnee, die Bürgersteige waren vereist. Ich stieg ins Auto, um zur Prüfung zu fahren, kribbelig, gespannt und aufgeregt. Gerade als ich losgefahren war, rutschte vor mir eine alte Dame mit Stock am Bürgersteig aus, stürzte und fiel gegen mein Auto. Auch das noch! Ich bremste, stieg aus, aber es war ihr nichts geschehen. Ich war erleichtert.
Aber nun? Trotz Examenstermin fragte ich sie, wo ich sie hinfahren könnte, wollte ihr im beiderseitigen Schreck helfen. Ich hatte Glück, denn ihr Ziel lag auf meinem Weg. Auf der Fahrt erzählte ich ihr, was mir gleich bevorstand. An ihrem Ziel angekommen, verabschiedeten wir uns, und sie sagte: „Ich bete für Sie.“ Sie winkte noch einmal mit ihrem Stock, und dann fuhr ich weiter.
Ruhig und getragen ging ich ins Examen. Der Schreck war weg, und ich habe dann, ohne dass mich der Beinaheunfall aufgeregt hätte, die Prüfungen des Tages gut absolviert.
An dieses Erlebnis dachte ich, als ich den sonntäglichen Predigttext las, denn darin heißt es: „Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten.“
Diese Übersetzung aus dem Philipperbrief sagt „sooft ich euer gedenke“ – das ist eine wunderbare Formulierung, denn das sagen wir heute auch: Ich denke an dich! Sagen Sie das vielleicht auch öfter, etwa nach einem Telefonat, wo Schweres mitgeteilt wurde? So tat ich es, als vor drei Wochen unsere hochschwangere Tochter zu einer kritischen Untersuchung ging und ich am Telefon sagte: „Ich denk’ an dich.“
Mir geht das jetzt erst auf, dass „Ich denke an dich“ auch heißen kann „Ich bete für dich.“ Ohne große Anrede, kein Gebetskunstwerk sondern nur diese vier Worte: „Ich denke an dich.“ Das ist wie eine Umarmung durch die Sprache, auch über Entfernungen hinweg. Das funktioniert am Telefon, bei einem Gespräch, wo die Worte versiegten und wir vielleicht auch bedrückt ob dieser Stille sind. Aber das „Ich denke an dich“ steht dann doch zur Verfügung. Ich denke an die alte Dame im Schnee.
Unser Autor
Rainer Neumann
ist Pastor im Ruhestand in Greifswald.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.