Hier kommt medizinische Hilfe – auch ohne Krankenversicherung

Auch in Deutschland gibt es Menschen ohne Krankenversicherung, die deshalb nur eingeschränkt medizinisch versorgt werden. Eine neue „Praxis ohne Grenzen“ der Diakonie öffnet jetzt in Neumünster.

Ohne Krankenversicherung behandeln die Ärzte in Neumünster (Symbolbild)
Ohne Krankenversicherung behandeln die Ärzte in Neumünster (Symbolbild)Darko Stojanovic / Pixabay

Neumünster. Der Raum ist klein: Ein Schreibtisch, eine Liege, ein Schrank und ein EKG-Gerät passen gerade so hinein. „Das hat uns ein befreundeter Arzt geschenkt“, erzählt Johannes Kandzora, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt und Mitglied im Praxisnetz Neumünster. Er steht in der neuen „Praxis ohne Grenzen“ im Familienzentrum der Diakonie Altholstein. Ab kommender Woche sollen hier jeden Mittwoch von 15 bis 17 Uhr Menschen versorgt werden, die keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz haben. „Wir haben zwar ein ultrahohes Niveau der medizinischen Versorgung in Deutschland, aber wir erreichen nicht alle“, sagt Kandzora, der von rund 20 Kollegen unterstützt wird.

„Es gibt vielfältige Gründe, aus der Krankenversicherung rauszufallen“, erläutert Carsten Hillgruber (SPD), Erster Stadtrat von Neumünster. Das passiere beispielsweise Selbständigen, die ihre Krankenkassenbeiträge aus wirtschaftlicher Not nicht mehr zahlen könnten. Es gebe aber auch ganz andere Gründe. „Wir gehen davon aus, dass ein relevanter Anteil der Bevölkerung in Neumünster nicht versichert ist“, sagt Hillgruber. Das treffe neben Menschen in wirtschaftlicher Not auch Arme und Menschen mit geringer Bildung, ergänzt Kandzora.

Gut vernetzt

Um auch die Ursachen einer fehlenden Krankenversicherung zu bekämpfen, wird während der Sprechzeiten auch eine Sozialberatung angeboten – im Zimmer schräg gegenüber des kleinen Praxisraums. „Eine gut vernetzte Mitarbeiterin von uns wird versuchen, die Menschen wieder in eine Krankenversicherung zu bringen oder sie wenn nötig an die Schuldner- oder Migrationsberatung weiterzuleiten“, erläutert Diakonie-Bereichsleiterin Andrea Dobin.

Gemeinsam für eine kostenlose Behandlung (v.l.): Stadtrat Carsten Hillgruber, Andrea Dobin von der Diakonie Altholstein, Andrea Holling und Johannes Kandzora, beide vom Praxisnetz Neumünster
Gemeinsam für eine kostenlose Behandlung (v.l.): Stadtrat Carsten Hillgruber, Andrea Dobin von der Diakonie Altholstein, Andrea Holling und Johannes Kandzora, beide vom Praxisnetz NeumünsterImke Plesch

Diese begleitende Sozialberatung unterscheidet die neue „Praxis ohne Grenzen“ von den anderen in Schleswig-Holstein. 2010 gründete Uwe Denker, Facharzt für Allgemeinmedizin und Kinderheilkunde im Ruhestand, als Pilotprojekt die erste „Praxis ohne Grenzen“ in Bad Segeberg. 2020 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seine Arbeit. Mittlerweile gibt es in Schleswig-Holstein weitere Praxen in Stockelsdorf, Preetz, Husum, Rendsburg und Flensburg. Bundesweit sind sie auch in Hamburg, Wiesbaden, Solingen oder Remscheid zu finden.

Die Patienten von Uwe Denker in Bad Segeberg sind oft ehemalige Selbstständige und Kleinunternehmer, die pleite gegangen sind. Die Liste der Berufe ist lang: Stahlbauingenieur, Bauzeichnerin, Tischlermeister, Friseurin, Schausteller oder Modellschneiderin. Wenn jemand seine Versicherungsbeiträge nicht mehr bezahlen kann, übernimmt die Kasse die Kosten nur noch in akuten Notfällen, bei starken Schmerzen oder für eine Geburt. Denker: „Wenn jemand aber Diabetes oder Bluthochdruck hat, werden die notwendigen Medikamente nicht bezahlt.“

Ärzte arbeiten ehrenamtlich

Alle Ärzte der „Praxen ohne Grenzen“ arbeiten ehrenamtlich, die Kosten für Facharztbehandlungen, Krankenhausaufenthalte oder Medikamente werden durch Kooperationen mit anderen Ärzten oder Kliniken getragen oder durch Spenden finanziert. In Neumünster beteiligt sich die Stadt mit 20 Prozent an den Kosten der Praxis, das Sozialministerium trägt die restlichen 80 Prozent. Für Medikamente oder weiterführende Behandlungen ist die Praxis jedoch auch auf Spenden angewiesen.

„Unser Ziel ist es, alle Menschen in Deutschland in eine Krankengrundversicherung zu bringen“, erläutert Denker. Weil die Chance der Umsetzung aber derzeit gering sei, konzentriere man sich jetzt auf eine bedingungslose Krankenversicherung für Kinder. Sie müssten unabhängig vom Status ihrer Eltern krankenversichert sein, fordern Denker und die anderen „Praxen ohne Grenzen“ in Schleswig-Holstein schon seit Jahren. (epd)

Info
Die Praxis ohne Grenzen in Neumünster ist ab Mittwoch, 8. September, jeden Mittwoch von 15 bis 17 Uhr geöffnet. Die Adresse ist Am Alten Kirchhof 2 in Neumünster. Um Anmeldung wird gebeten unter Tel. 04321/25051323 oder unter info@praxis-ohne-grenzen-nms.de.