Heute ist alles grau

Über schicksalhafte Augenblicke schreibt Ralf Schlenker. Er ist Pastor im Männerforum der Nordkirche.

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Der Predigttext des kommenden Sonntags lautet: „… ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden.“
aus Prediger 12, 1-7

Der Herbstblues greift um sich. Viele Menschen fühlen sich müde und antriebslos. Sie vermissen die hellen Tage des Sommers und fürchten die dunklen des Winters. Der Herbst ist für sie wie ein Regentag im Urlaub. Gestern schien noch die Sonne, und heute ist alles grau. Solche Tage kennen wir alle: im Bad fast ausgerutscht, zum Frühstück etwas zu Bruch gehen lassen, beim Schuhe anziehen den Schürsenkel zerrissen … am besten zu Hause bleiben und die Decke über den Kopf ziehen, bevor noch mehr passiert. Wer weiß denn schon, was die Zukunft bringt?

Die Klage über das Gestern und die Sorge um das Morgen verdüstern uns den Blick für das Heute. Wir wissen doch, dass es immer wieder Tage geben wird, die uns nicht gefallen. Der Prediger erinnert uns daran, dass wir diesen nicht unvorbereitet ausgeliefert sein müssen. In inniger Verbundenheit mit unserem Schöpfer können wir ihnen mit jugendlichem Leichtsinn begegnen. Diesen „leichten Sinn“ bekommen wir, wenn wir ganz im Hier und Jetzt bleiben. In achtsamen Umgang mit uns selbst lernen wir als Teil der Schöpfung zu unterscheiden zwischen dem Staub, der wieder zu Erde wird und dem Atem, der zu Gott zurückkehren möchte.

Darüber habe ich an einem Regentag im Urlaub nicht bei Horaz oder Meister Eckhart etwas gelesen, sondern bei einem verurteilten Verbrecher. Der Australier Gregory David Roberts hatte das mit dem jugendlichen Leichtsinn irgendwie falsch verstanden. Nach seiner Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis versteckt er sich in Indien. Was er dort erlebt und für sich erkannt hat, verarbeitet er, wieder in Haft, in dem Buch Shantaram: „Es gibt eine Art von Glück, die entsteht, wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort ist und eine Eingebung, die man erlebt, wenn man auf die richtige Weise das Richtige tut. Und beides wird einem nur zuteil, wenn man das Herz von jeglichem Ehrgeiz, Ziel und Plan befreit; wenn man sich dem goldenen schicksalshaften Augenblick hingibt, vollkommen und mit Leib und Seele.“

Unser Autor
Ralf Schlenker ist Pastor im Männerforum der Nordkirche.

Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Dienstag.