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Grauzone Islamismus

Islam, Islamismus, Dschihadismus – die Debatte um Terror und Integration verfängt sich schnell im Dickicht der Definitionen. Kein Wunder, denn die Grenzen sind oft fließend. Oder sind Taliban gar keine Muslime?

Nach islamistischen Anschlägen wie mutmaßlich in Solingen ringen Menschen um Worte. Und um Begriffe, die den religiös begründeten Terror und seine Täter erklären, oft aber nur neue Fragen aufwerfen. Denn wo hört der Islam auf und fängt Islamismus an? Warum werden mordende Fanatiker als “Dschihadisten” gelabelt, obwohl Islamgelehrte den Dschihad meist als reinen Verteidigungskrieg verstehen? Immer wieder verschwimmt die Debatte im Sprachdickicht.

Dabei wirkt es auf den ersten Blick einfach: Muslim ist, wer die “fünf Säulen” des Islam befolgt, nämlich das Bekenntnis zu Allah und seinem Gesandten Mohammed, die täglichen Gebete, das Ramadan-Fasten, die Almosenabgabe und die Wallfahrt nach Mekka – religiöse Pflichten, die mit westlichen Demokratien problemlos vereinbar sind. Das beweisen Millionen säkulare Musliminnen und Muslime, die ihre Religion als Privatsache begreifen.

Der Teufel steckt im Detail der ersten Säule. Denn welches Verhalten der Glaube an Allah und den Gesandten verlangt, hängt von der Auslegung des Koran und der Aussagen und Taten Mohammeds (Sunna) ab. Eine oberste Lehrautorität gibt es zumindest unter Sunniten nicht. Allerdings entstand nach Mohammeds Tod ein orthodoxer Mehrheitsislam auf Basis der vier großen Scharia-Rechtsschulen, die sich am Vorbild der Herrschaft Mohammeds im Arabien des 7. Jahrhunderts orientieren.

Sie stehen für ein oft buchstabengetreues Verständnis von Koran und Sunna, inklusive fehlender Gleichberechtigung für Andersgläubige und Frauen sowie Strafen für Homosexuelle und den Abfall vom Glauben. In den meisten islamischen Ländern gilt heute die Scharia allenfalls noch im Zivil- und Erbrecht, volle Religionsfreiheit gibt es dort aber so gut wie nirgends.

Im Zuge der Reislamisierung seit den 1970er Jahren hat der traditionelle Islam wieder an Einfluss gewonnen, sichtbar vor allem an der Verbreitung des Kopftuchs in Ländern wie der Türkei oder Ägypten. Bis auf wenige progressive Theologen, die fast nur im Westen wirken, geben orthodoxe Gelehrte international den Ton an.

Wo beginnt der Islamismus? Laut Definition unterscheidet ihn vom moderaten Islam, dass er dessen Regeln zur politischen Grundlage des Staates machen will. Für seine mehr oder weniger friedliche Variante, die auf Unterwanderung der Gesellschaft setzt, gibt es die Begriffe “politischer Islam” oder “legalistischer Islamismus”. Der terroristische Zweig trägt das Label “Dschihadismus”.

Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel hält die Trennung zwischen konservativem Islam und Islamismus indes für konstruiert. Solange gewaltbejahende Stellen in Koran und Sunna nicht im historischen Kontext verstanden und damit entschärft würden, bleibe auch im Mehrheitsislam die Tendenz zu einer fundamentalistischen Auslegung und totalem Herrschaftsanspruch. Auch der Islamtheologe Mouhanad Khorchide unterstreicht eine fehlende Säkularisierung im breiten Islam. De facto hätten sich die tonangebenden Theologen nie vom Konzept des Gottesstaates verabschiedet, in dem Religion und Politik nicht zu trennen sind.

Dagegen verweisen Forscher wie der Arabist Thomas Bauer auf die Vieldeutigkeit, die den Islam stets ausgemacht habe – bis hin zur einst verbreiteten Akzeptanz von Homosexualität und der auf individuelle Gotteserkenntnis ausgerichteten Mystik. Selbst ein Kritiker des konservativen Islam wie der Politologe Bassam Tibi unterstreicht, dass die Scharia kein bestimmtes politisches System vorschreibt, etwa ein Kalifat.

Die meisten Experten betonen, erst die Konfrontation mit dem Westen habe im 19. und 20. Jahrhundert die klar umrissene Ideologie des Islamismus hervorgebracht, die sich aber auf vergangene Denker wie Ibn Taimiya (gest. 1328), den geistigen Stammvater der Salafisten, berufen konnte. Zentraler Bezugspunkt blieb dabei immer die vermeintlich ideale Urgemeinde des Propheten in Medina.

Letztlich sind die Grenzen zwischen orthodoxem Scharia-Islam und Islamismus fließend. Zumindest dschihadistische Mörder missbrauchen den Islam jedoch zweifellos. Denn selbst orthodoxe Gelehrte unterwarfen den “Heiligen Krieg” stets strengen Regeln, die von Terroristen verletzt werden – etwa das Gebot, Zivilisten zu schonen. Zudem sind die meisten Opfer von Dschihadisten selber Muslime.