„Geschichte lässt sich nicht korrigieren“

Die jüdische Historikerin Miriam Rürup lehnt den Neubau der Hamburger Synagoge ab. Im Interview erläutert sie ihre Gründe und macht einen anderen Vorschlag.

Monument zur Erinnerung an die Bornplatzsynagoge, der Grundriss ist in den Boden eingelassen
Monument zur Erinnerung an die Bornplatzsynagoge, der Grundriss ist in den Boden eingelassenWikimedia Commons/Catrin Pieri

Hamburg. Sie war die einst größte Synagoge Norddeutschlands und wurde in der Zeit des Nationalsozialismus zerstört: Die Hamburger Bornplatz-Synagoge soll nun möglichst originalgetreu wiederaufgebaut werden. Die Direktorin des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, Miriam Rürup, hält das für ein falsches Signal, wie sie im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erläutert. Die 46-jährige Historikerin ist selbst Jüdin, gehört aber keiner jüdischen Gemeinde an.

KNA: Frau Rürup, Sie sprechen sich gegen den originalgetreuen Wiederaufbau der früheren Bornplatz-Synagoge in Hamburg aus. Warum?
Rürup: Ich finde es erfreulich, dass die Hamburger Politik als Antwort auf den Anschlag auf die Synagoge in Halle ein Zeichen für jüdisches Leben setzen möchte. Dieser Anschlag war ein Schock.

Allerdings geht mir das zu schnell. Ich wende mich gegen einen rückwärtsgewandten Wiederaufbau der früheren Bornplatz-Synagoge. Sie ist nicht einfach durch eine Naturgewalt zerstört worden, sondern wurde in der Pogromnacht von Hamburgern angegriffen und musste dann von der jüdischen Gemeinde abgebaut werden. Nun soll das Gebäude originalgetreu wiederaufgebaut werden. Es scheint fast, als wolle man als geläuterte Gesellschaft dort anknüpfen, wo man 1933 aufhörte; als könne man zumindest architektonisch ungeschehen machen, was die eigenen Großeltern und Urgroßeltern angerichtet haben. Aber Geschichte lässt sich nicht korrigieren. Die Begeisterung in Politik und Stadtgesellschaft für einen Wiederaufbau sehe ich daher mit Sorge. Wenn eine Umarmung zu herzlich und eng wird, kann sie einen auch erdrücken.

Auch die orthodoxe jüdische Gemeinde selbst hat sich für einen Wiederaufbau ausgesprochen. Ist das nicht die entscheidende Stimme?
Das Bedürfnis der jüdischen Gemeinde nach mehr Platz und einer größeren Sichtbarkeit ist nachvollziehbar und legitim. Aber wenn das Projekt mit öffentlichen Geldern finanziert werden soll, dann muss es ebenso eine öffentliche Diskussion geben. Statt zurückzublicken, plädiere ich auch innerjüdisch dafür, nach vorne zu schauen, sowohl architektonisch als auch inhaltlich. Die orthodoxe Gemeinde ist heute nicht die einzige jüdische Gemeinschaft in Hamburg. Es gibt eine Vielfalt an jüdischen Glaubensrichtungen. Ein repräsentatives Gebäude wiederzuerrichten, das für nur eine Glaubensrichtung steht, wäre eine Verengung.

Aktuell erinnert auf dem früheren Bornplatz, der heute nach Rabbiner Joseph Carlebach benannt ist, ein Bodenmosaik an die einstige Synagoge. Ist diese Gestaltung angemessen?
Dieses Mahnmal ist sehr beeindruckend, weil es die Leere veranschaulicht. Es ist in einer großen Stadt nicht selbstverständlich, dass es freie Plätze gibt. Ich will einen Neubau dort nicht ausschließen. Aber es bestürzt mich, dass das Mosaik in der aktuellen Diskussion um den Wiederaufbau kaum erwähnt wird. Wir müssen uns damit befassen, wie wir mit diesem Mahnmal umgehen. Es wurde lange genug darum gekämpft. Zu sagen, wir überbauen es mit einem Vorkriegsbau, als bräuchten wir es nicht mehr, ist das falsche Signal.

Wie lautet Ihr konkreter Vorschlag für einen Neubau an dieser Stelle?
Ein Neubau kann ja das alte Gebäude zitieren und so an die Vergangenheit erinnern. Aber grundsätzlich sollte er zukunftsorientiert gestaltet werden. Ich schlage vor, ein Gremium aus allen Beteiligten und Experten einzuberufen, das öffentlich diskutiert, was in welcher Form dort möglich ist.

Gibt es gelungene Beispiele aus anderen Städten?
Das jüdische Zentrum in München ist sehr gelungen. Dort gibt es einen religiösen Ort, eine Schule und ein Museum in einem Ensemble. Gerade wenn etwas für jüdisches Leben getan werden soll, dann sollte es dessen Vielfalt berücksichtigen und möglichst ebenso kulturell wie religiös ausgerichtet sein. Neben Vermittlung und Aufklärung sollte auch Begegnung im Mittelpunkt stehen. Das Münchner Beispiel zeigt: Man muss nicht historisch rückwärtsgewandt wieder aufbauen und kann trotzdem ein starkes Zeichen für jüdisches Leben setzen.

Wie könnte in Hamburg die Vielfalt jüdischen Lebens angemessen zum Ausdruck gebracht werden?
Hamburg hat hier eine riesige Chance. Es war ein Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland. In der Stadt lebten sowohl Juden aus Portugal als auch aus Mittel- und Osteuropa. Davon zeugen heute allein 16 jüdische Friedhöfe. In der Neustadt organisierte sich im 19. Jahrhundert das liberale Judentum. Dort wurde 1844 der weltweit erste liberale Tempel errichtet. Er wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Beeindruckende Überreste stehen heute noch in einem Hinterhof – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Solches jüdisches Erbe in Form historischer Bausubstanz gibt es hierzulande nur noch selten. Es bietet Anlass zum Weiterdenken. Und wenn schon ein Signal für jüdisches Leben gesetzt werden soll, dann frage ich mich, wieso einmalige Überreste jüdischen Lebens zeitgleich seit Jahren dem Verfall überlassen werden. In der Tempel-Ruine könnte eine kleine Ausstellung oder eine Begegnungsstätte entstehen – losgelöst vom Rahmen religiöser Tradition.

Wäre es angesichts der reichhaltigen jüdischen Tradition in Hamburg nicht sinnvoll, ein groß angelegtes jüdisches Museum zu errichten?
Warum eigentlich nicht? Im Gegensatz zu anderen größeren Städten in Deutschland fehlt Hamburg bislang eine solche Einrichtung. Zu zeigen gäbe es genug.

Wie steht es bundesweit 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs um die Erinnerungskultur an das jüdische Leben in Deutschland vor der Naziherrschaft?
Da gibt es durchaus Nachholbedarf. Die Beschreibung jüdischen Lebens ist häufig auf die Geschichte von Verfolgung reduziert. Dabei gibt es so viel mehr zu erzählen. Die Juden sind keine Opfergruppe, sondern eine bunte Gemeinschaft, in der es Arme und Reiche, Konservative und Revolutionäre, Orthodoxe und Liberale sowie komplett weltlich lebende Menschen gab und gibt. Wenn man diese ganze Bandbreite auch bei einer Betrachtung der deutsch-jüdischen Geschichte miteinbeziehen würde, dann wäre viel gewonnen.

Ist heute das jüdische Leben in Deutschland aufgrund des wachsenden Antisemitismus wieder in Gefahr?
Ja und nein. Nicht nur jüdisches Leben, sondern unsere Gesamtgesellschaft ist in Gefahr. Wachsenden Antisemitismus sehe ich im Kontext von zunehmender Demokratiefeindlichkeit sowie Feindlichkeit gegenüber Migranten, Behinderten, Homosexuellen und Andersdenkenden. Wir müssen die Alarmzeichen rechtzeitig erkennen.

Die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen zeigt, wie sehr rechtes Denken, das gesellschaftlich schon lange verbreitet ist, nun auch auf der politischen Ebene angekommen ist. Das macht mir große Sorgen.

Erleben Sie persönlich auch Anfeindungen?
Als Jüdin begegne ich eher judenfreundlichen als -feindlichen Stereotypen, was letztlich aber eine ähnlich beunruhigende, weil pauschalisierende Sicht auf Juden ist. In der aktuellen Debatte erfahre ich zwar verärgerte Reaktionen. Aber es überwiegen die Stimmen – jüdische wie nichtjüdische zugleich –, die mich bestärken, dass die Debatte durch meine Beiträge geöffnet wird. Ich möchte auch hier eine jüdische Vielstimmigkeit ermöglichen. Und es ist ja so: Wer nach einem starken Symbol ruft, muss auch bereit sein, dass dessen Symbolwirkung dann kritisch befragt wird. (KNA)