Geschichte in der Dönerbude

Barrierefreiheit bedeutet mehr als ebenerdige Toiletten. Das zeigt die Kunsthalle Osnabrück mit einer Ausstellung, die sich den zahlreichen Facetten dieses Themas nähert.

Die Gruppe „Die Blaue Distanz“ beschäftigt sich in ihrer Installation mit dem Gehörlosigkeit
Die Gruppe „Die Blaue Distanz“ beschäftigt sich in ihrer Installation mit dem GehörlosigkeitFriso Gentsch

Osnabrück. Was ist Barrierefreiheit? Die meisten Menschen denken bei dem Begriff zunächst an behindertengerechte Toiletten und Aufzüge. „Aber Barrierefreiheit umfasst deutlich mehr“, erklärt Anna Jehle, die gemeinsam mit Juliane Schickedanz die Kunsthalle Osnabrück leitet. Dort widmen sich sechs Einzelausstellungen bis Februar 2022 dem Thema Barrierefreiheit.

So interessierten sie sich dafür, „was gerade in der Gesellschaft brennt und was das mit Kunst zu tun hat“, erläutert Anna Jehle das Konzept. Im Thema steckten die Begriffe Barriere und Freiheit. „Wessen Freiheit ist die Norm?“, fragt Jehle. „Wie barrierefrei ist unsere Welt?“ Dieser Frage gehen internationale Kunstschaffende in den kommenden Monaten nach. Sie beschäftigen sich dabei mit ganz unterschiedlichen Formen der Ausgrenzung – von körperlicher Behinderung über Sexismus und Rassismus bis zum sozialen Status. Die Barrierefreiheit komme auf den Prüfstand, so die Kunsthallendirektorin. Durch Kunst sollen Räume für alle geschaffen werden, in denen niemand ausgegrenzt wird.

Kirche eingerüstet

Um sich dem Thema zu nähern, nutzen die Kunstschaffenden die Räume der Kunsthalle, die in der Kirche eines ehemaligen Dominikanerklosters untergebracht sind. Die Exponate, Installationen, Skulpturen und Filme werden im Innenhof, im Foyer, im Kirchenschiff und im Kreuzgang der ehemaligen Klosterkirche zu sehen und zu hören sein. Auch ein Döner-Restaurant soll im laufenden Betrieb zum Ausstellungsort werden. „Der Ausstellungsraum Kirche soll in die Spezifik mit einbezogen werden“, sagt Anna Jehle, „der Kommentar der Kirche ist immer da.“ Die Kirche, die derzeit aufgrund von Renovierungsarbeiten eingerüstet ist, dient der Kunsthalle seit 1993 als Ausstellungsraum.

Magen und Verstand – eine Einheit

In der aktuellen Ausstellung setzt die US-amerikanische Künstlerin Alison O’Daniel, die selbst eine Hörbeeinträchtigung hat, eine Klang- und Soundinstallation um, die ihre eigenen Hörerlebnisse mit denen anderer in Beziehung setzt. Sie wird Filme, Skulpturen und Klanginstallationen im Kirchenschiff präsentieren. Für ihre Kunst arbeitet sie laut Ankündigung mit hörenden, gehörlosen und schwerhörigen Menschen zusammen. Für die Kunsthalle hat sie einen Teppich hergestellt, dessen bunte geometrische Formen und Linien auf dunklem Grund die Klangeindrücke wiedergeben, die ihr taube und schwerhörige Menschen nach einem Besuch in dem leeren Kirchenschiff geschildert haben. So ist eine Art Notenblatt des individuellen Hörens entstanden. Zu sehen ist die Schau „I felt people dancing“ bis 3. Oktober.

Der iranischstämmige US-Amerikaner Payam Sharifi und die Polin Kasia Korczak fordern als Künstlergruppe „Slavs and Tatars“ dazu auf, Magen und Verstand als Einheit zu betrachten. Sie servieren den Gästen eines Döner-Lokals in Osnabrück zum Essen Podcasts und Lesungen und haben zudem Servietten, Döner-Tüten und Tischsets mit Gedichten bedrucken lassen.

„Eine Art von Sexismus“

Die Schweizerin Sandra Röthlis­berger hat im Kirchenschiff Altäre, Grabsteine und Blumenvasen aufgebaut. Sie sollen ebenfalls bis 3. Oktober an die Hexenverfolgung in Osnabrück im 16. und 17. Jahrhundert erinnern. „Hexenprozesse waren eine Art von Sexismus“, erklärt Anna Jehle. „Die Verurteilung kann man nicht rückgängig machen, weil man damals geltendes Recht nicht revidieren kann, aber die Künstlerin setzt mit ihren Arbeiten ein Zeichen für die Verfolgten.“ Anna Erdmann und Franziska Goralski, die als „Die Blaue Distanz“ zusammen arbeiten, präsentieren bis 27. Februar Filme, die sie in verschiedene Sprachen und auch in Gebärdensprache und Brailleschrift übersetzt haben.

Ein Banner mit der Aufschrift „Es gibt kein neutrales Außen von Rassismus – jede Person und Institution ist davon berührt“ wurde durch Vandalismus zerstört, dann aber wieder aufgehängt. Gestaltet haben es die in Berlin lebende Kommunikationswissenschaftlerin und Autorin Natasha A. Kelly und die freie Illustratorin Hannah Marc.

Die Ausstellung wird begleitet von einem Vermittlungsprogramm unter anderem für Schulen, das auch ein Forschungsprojekt und Kooperationen mit Einrichtungen für behinderte Menschen umfasst.