Gefüllte Gläser

Über den Traum vom gemeinsamen Feiern schreibt Maria Harder. Sie ist Pastorin in Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern).

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Der Predigttext des kommenden Sonntags lautet: Jesus spricht zu ihnen: Füllt die Wasserkrüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis obenan.“ aus Johannes 2, 7

Erschöpft, nach langem Spaziergang, sank Liese aufs Sofa. Ihr ging das aufwühlende Gespräch und die Enttäuschung über das ausgefallene Fest noch sehr nach. Die Tochter ging aus dem Zimmer, um ihr etwas zu trinken zu holen. Liese wollte ein wenig die Augen zumachen, alles loslassen. Da stieg ein Bild vor ihr auf. Sie fand sich in einer Festgesellschaft wieder, allein an einem Tisch ohne Kontakt zu den anderen Gästen. Sie war fremd, fühlte sich verlassen. Vor ihr stand ein leeres Weinglas.

Am Türrahmen beobachtete sie zwei Menschen. Ein Mann fuhr eine ältere Frau scharf an. Sie schienen sich zu kennen. Als Liese das beobachtete, spürte sie Ärger in sich aufsteigen. Der Ärger hörte nicht auf zu wachsen. Da war eine Wut in ihr, die sie zu sprengen drohte. Es kam ihr so vor, als würde alles Unrecht, das sie je empfunden hatte, auf einmal aus ihr herausbrechen wollen. Sie wollte aufstehen und gehen. Sie konnte nicht, fiel in sich zusammen.

Eingeschlafen

Hilfesuchend schaute sie sich um. Niemand sah sie – kein Blickkontakt. Sie war einsam, aber es fühlte sich vertraut an: diese Leere. Jemand füllte ihr das Glas bis obenan. Es war der Mann, über den sie sich gerade so geärgert hatte. Er schaute Liese freundlich an und sagte: „Trink von diesem! Es sieht so aus, als könntest du es gebrauchen.“ Erst jetzt spürte sie diesen Durst, sehnsüchtig, brennend. Als sie trank, flossen ihr die Tränen. Er hatte sie gesehen? Ihren Durst, ihre Not? Sie nahm Musik wahr, festliche Musik. War es ihr Fest? Jemand tippte ihr auf die Schulter.

„Mama, Mama! Bist du eingeschlafen? Unser Wasser ist alle. Wir haben nur noch das aus dem Hahn.“ Die Tochter gab ihr das gefüllte Glas. Liese nahm einen kräftigen Schluck, schmunzelte und sagte: „Das Wasser schmeckt nach Wein.“ Dann nahm sie ihre Tochter in den Arm und sagte: „Ich glaube, dass wir bald wieder ein schönes Fest feiern werden.“ „Woher weißt du das?“, fragte die Tochter trotzig. „Einfach so, wegen des Wassers vielleicht.“

Unsere Autorin
Maria Harder ist Pastorin der Kirchengemeinde Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern)

Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Dienstag.