Französische Krimikomödie um einen ehemaligen Häftling auf Arte
Um einen (Ex-)Häftling, eine ältere Theaterlehrerin, ihren Sohn und dessen beste Freundin dreht sich eine ungewöhnliche Krimikomödie, die Arte am 23. Oktober ausstrahlt.
Ein Axolotl müsste man sein. Bei seinen Führungen durch das Aquarium des Zoos vergisst Abel (Louis Garrel) nicht, die Besonderheiten des mexikanischen Schwanzlurches zu rühmen: ein Leben lang im Larvenstadium bleiben zu dürfen und in der Lage zu sein, verlorene Körperteile nachwachsen zu lassen. Das wäre doch auch etwas für Menschen!
Abel jedenfalls kämen die Eigenschaften seines Lieblingstiers sehr gelegen. Seit dem Unfalltod seiner Frau laviert er zwischen Schuldgefühlen, Unsicherheit und Einsamkeit; dazu kommt noch die Sorge um seine Mutter Sylvie (Anouk Grinberg). Die könnte mit 60 Jahren eigentlich trittsicher im Leben stehen, führt sich nach Meinung ihres Sohnes aber keineswegs wie eine reife, reflektierte Erwachsene auf.
Die frühere Schauspielerin gibt Theaterkurse in Gefängnissen und hat sich dabei in einen der Gefangenen verliebt; die Hochzeit mit Michel (Roschdy Zem) muss unbedingt noch hinter Gittern stattfinden, obwohl seine Entlassung wegen guter Führung kurz bevorsteht. Doch die impulsive Frau und der geläutert scheinende Mann wollen nicht damit warten, ihre große Liebe rechtlich zu verankern. Abel allerdings ist skeptisch, denn er hat seine Mutter schon in mehreren ähnlichen Leidenschaftsphasen mit Häftlingen erlebt: “Der dritte in zehn Jahren … Das ist kein Knast mehr, sondern eine Kontaktbörse.”
Louis Garrel beginnt “Verkehrte Welt” mit der Skizzierung einer komplexen Familienbeziehung, in der die Mutter als das “Sorgenkind” erscheint. So spontan und sprunghaft Sylvie sich präsentiert, so sehr ist Abel die Stimme der Vernunft. Mit dem auch durch sein Alter zwischen den beiden stehenden Michel kommt eine weitere Figur hinzu, die für Abel weniger Stiefvater als Konkurrent um die Zuneigung zu Sylvie ist. Dementsprechend ist es eine Form von Eifersucht, als Abel den entlassenen Michel zu verfolgen beginnt.
Der erklärt zwar, seine Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben, und hat mit Sylvie das gemeinsame Projekt eines Blumenladens in Angriff genommen. Doch an den Erklärungen, woher das Startkapital dafür kommt, zweifelt Abel. Und so steigt er dem Ex-Häftling hinterher, um diesen auf frischer Tat bei neuen kriminellen Umtrieben zu erwischen.
Michel bemerkt den neuen Stiefsohn rasch und reagiert eher amüsiert als verärgert, bis Abel seine Verfolgungstaktik verfeinert und seinen Argwohn bestätigt findet. Allerdings hat seine Entdeckung unerwartete Folgen. Statt einen Keil zwischen seine Mutter und ihren unerwünschten Partner zu treiben, sieht er sich mit einem Mal in die Rolle von Michels Komplizen gedrängt. Schließlich gehe es um einen “letzten Coup”, mit dem der Traum von einem Blumenladen finanziert werden soll. Und damit um einen Liebesbeweis für Sylvie.
Garrel setzt geschickt darauf, die Erwartungen des Publikums zu hintertreiben, angefangen mit dem von ihm selbst gespielten Protagonisten Abel. Dieser ist keineswegs der eindeutige Sympathieträger des Films, obwohl er aus guten Gründen handelt und mit seinem Misstrauen komplett richtig liegt.
Als Regisseur wählt Garrel jedoch immer wieder die Außenperspektive auf das Vorgehen von Abel, das auf diese Weise manisch-egoistische Züge bekommt – eine smarte kleine Reflexion in Sachen filmischer Sympathielenkung. Zudem sprechen Sylvie, Michel und auch Abels beste Freundin Clemence (Noemie Merlant) offen aus, dass sie sein Verhalten missbilligen und er das Glück des frischgetrauten Paares zu zerstören drohe.
Diese Wahrnehmungsverschiebungen ziehen sich auch durch die Inszenierung. So wird in die Planung des Überfalls auf einen Transporter für Kaviar bewusst ein theatralisches Manöver integriert, bei dem Abel und die eingeweihte Clemence einen Beziehungsstreit in der Autobahnraststätte vorspielen sollen, um den Lkw-Fahrer abzulenken. Bei der Durchführung funken jedoch die bis dahin unterdrückten Gefühle zwischen den platonischen Freunden dazwischen, was der Szene einen unbeabsichtigten Ernst verleiht.
Souverän versteht es Garrel als Regisseur, solche Kippmomente umzusetzen und die Stimmung in der Schwebe zwischen Tragikomödie und Krimi zu halten. Zugleich zieht er bei der detaillierten Umsetzung des Überfalls auch die Spannungsschraube an, wenn der vermeintlich sichere Plan an unvorhergesehenen Störungen zu scheitern droht.
Unter den vier präzise entworfenen Hauptfiguren treiben vor allem die beiden weiblichen Charaktere die Handlung voran; deren Darstellerinnen können glänzen: Anouk Grinberg als im Herzen störrisch jung bleibende Sylvie ebenso wie Noemie Merlant als neckisch-kesse, insgeheim aber tief verletzte und unberechenbare Clemence. Neben ihnen haben die Männer nur die Chance, zu reagieren und das Beste zu hoffen.