55 Jahre nach einem Experiment an einem Münchner Gymnasium versammelt der Filmemacher Edgar Reitz die damalige Klasse erneut um sich. Gemeinsam loten die Beteiligten das Projekt und seine Nachwirkungen aus.
Die “Filmstunde” beginnt vor einem alten Schulbau, dem Luisengymnasium in München. Beinahe palastartig sieht er aus, im Stil des späten 19. Jahrhunderts, als dieses Gebäude erbaut wurde. Die älteren Frauen, die sich dort treffen, sind um die 70 Jahre alt. Sie stellen sich genau an der gleichen Stelle auf, an der 55 Jahre zuvor ein Klassenfoto entstand, das im Bild zu sehen ist. Angeleitet werden sie nicht, wie damals, von ihrer Lehrerin, sondern von den Regisseuren Edgar Reitz und Jörg Adolph.
Der traf im Frühjahr 1968 am Luisengymnasium, damals noch eine reine Mädchenschule, eine Klasse mit 13- und 14-jährigen Mädchen für ein in Deutschland bis heute einmaliges Experiment. Reitz, einer der Pioniere des Jungen Deutschen Films, unterrichtete die Heranwachsenden zwei Monate lang in Film in Theorie und Praxis. Seitdem haben die Schülerinnen und ihr Lehrer, wie Reitz es ausdrückt, “55 Jahre lang, ohne dass wir es direkt gewusst haben, doch miteinander Zeit verbracht.” Die Dokumentation “Filmstunde_23” begleitet das Klassentreffen und blickt zurück. Der Film läuft am 19. Oktober ab 22.45 Uhr im BR-Fernsehen.
Die Geschichte dieses Experiments und seiner Folgen rekapituliert “Filmstunde_23” in einer Mischung aus Archivmaterial, dokumentarischen und essayistischen Passagen. Es ist, wie man gerne sagt, ein “kleiner Film”. Denn es geht nur um Alltagsmenschen, Jugendliche, die nicht weiter berühmt sind, und die zwei Monate lang ein bisschen was mit Film zu tun hatten – eine scheinbar beliebige, allenfalls durch Nostalgie zu rechtfertigende Geschichte. Tatsächlich ist “Filmstunde_23”, wie Reitz selbst sagt, “ein Zufallsprodukt”, das dadurch zustande kam, dass eine der damaligen Schülerinnen den Regisseur am Rande eines Konzerts ansprach und ihm erzählte, dass sich die Klasse seit über 50 Jahren regelmäßig trifft.
“Filmstunde_23” ist aber ein ganz großer Film, wenn man seinen ästhetischen Ansatz und sein Sujet ernstnimmt. Denn es geht hier ums Ganze: das Ganze des Kinos, seiner Ausdrucksmittel wie seines Wesens, aber auch das Ganze des Lebens, die Frage nach Konstanz einer Person über die Jahrzehnte der Lebenszeit hinweg und nach der Möglichkeit, durch den Film der Endlichkeit menschlicher Erfahrungen eine Dauer und vielleicht eine Art von Ewigkeit zu verleihen. Der 90-jährige Edgar Reitz entpuppt sich nicht nur als hellwacher, souveräner und erstaunlich jung gebliebener Filmemacher, sondern als ein avancierter Theoretiker der Filmbildung und als Philosoph des Kinos.
Doch von vorn: Reitz lehrte damals an der allerersten Filmschule der Bundesrepublik, der “Ulmer Hochschule für Gestaltung”, und wollte seine Vorstellung eines für alle zugänglichen Filmunterrichts praktisch umsetzen. Die Anfrage der Münchner Klassenlehrerin führte zu den zwei Monaten am Luisengymnasium. Reitz wurde von einem Team um den Kameramann Thomas Mauch begleitet und händigte in einer der ersten Unterrichtsstunden an jede seiner Schülerinnen eine leicht bedienbare Super-8-Kamera aus. Dadurch entstanden die Bilder, die diesen Film tragen, und die seinerzeit auch in eine Fernsehdokumentation des Bayerischen Rundfunks eingingen.
Es sind Bilder von einer wunderbaren, geradezu magischen Unschuld. In ihnen sind die gesellschaftlichen Utopien von 1968 und der Aufbruch einer Epoche spürbar, in der auch die jungen Münchnerinnen ihre Zukunft optimistisch und als überaus offen wahrnehmen. Freimütig begehren sie gegen die traditionalistischen Vorstellungen ihrer Eltern und der sie umgebenden Lebensumstände auf.
In Ausschnitten sieht man die Filme, die die Mädchen im Verlauf der zwei Monate selbst gedreht haben. Darin kommt alles vor, weil fast alles möglich war: zwischen braver Arbeitsdokumentation und teilnehmender Beobachtung der Lebensumstände der Familie oder des Bruders beim Fußballspiel im seinerzeit noch wenig bebauten Münchner Stadtteil Feldmoching, ebenso wie kleine Spielfilme.
Besonders interessant sind die Schilderungen von Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten. Wie in einer Zeitkapsel enthalten diese alltäglichen Autorenfilme entschwundene Augenblicke und Bewusstseinsstadien einer vergangenen Zukunft wie der kommenden Vergangenheiten um 1970.
Das eigentliche Zentrum von “Filmstunde_23” ist aber der Unterricht selbst. Edgar Reitz ist ein sehr guter Lehrer: Er erklärt geduldig, hat keine schnellen Antworten und lenkt seine Schülerinnen mehr durch kluge Fragen oder durch das Zeigen.
“Jeder Mensch kann Film machen.” Von dieser Überzeugung aus zeigt, nicht “erklärt” Reitz auch dem heutigen Publikum sinnlich und voller Lust am Konkreten, dass Film eine Mitteilungsform ist. Er zeigt Kameratechniken und Möglichkeiten der Montage, räsoniert über das Verhältnis von Bild und Wort. Reitz diskutiert mit den Schülerinnen die Vor- und Nachteile des Autorenkinos. Wiegen Souveränität und Freiheit des einzelnen Künstlers stärker als die Berücksichtigung des Teamgedankens? Ist das Plädoyer für Gleichheit und Mitsprache ein Vorwand, um Kunstfreiheit ökonomischen Interessen unterzuordnen?
Für Reitz gilt: “Jeder Mensch, der den Willen und die Konsequenz hat, sich mit dem Mittel Film auszudrücken, soll gefördert werden. Damit der Film eines Tages eine der Literatur vergleichbare allgemeine menschliche Sprache wird. Die Konsequenz dieser Forderung ist, bereits in den Schulen Film zu unterrichten.”
“Filmstunde 23” beglaubigt solche Aussagen. Dieser wunderschöne, kluge und ungewöhnliche Film zeigt, wie aus Passivität eine Handlung werden kann, die Kamera zum Medium der Ermächtigung. Das zeigt sich auch daran, dass der Filmunterricht die Klasse zu einem außergewöhnlichen Zusammenhalt finden ließ, wie die älteren Damen im Film übereinstimmend resümieren.
Am Ende dieser filmischen Zeitreise steht so das “kollektive Fluidum” (Reitz) der gemeinsamen Erfahrung des Filmens und die Aktivierung der Schülerinnen, die durch ihr Filmen auch das Sehen und – so suggeriert es “Filmstunde_23” – ein anderes Leben lernten. Das Kino als Schule des Lebens – hier ist es.