Pop ist eingängig und allgegenwärtig – und Pop ist oft simpel gestrickt. Ein neues Buch räumt mit Missverständnissen aus der “Pop-Psychologie” auf: Deren Auswirkungen können das Miteinander gefährden.
“All the world’s a stage”, die ganze Welt ist eine Bühne, heißt es bei William Shakespeare. Jede und jeder übernimmt verschiedene Rollen – der Dichter bezog sich auf Lebensabschnitte; heute spricht man auch von sozialen Rollen. Doch manche Menschen nehmen das Zitat offenbar allzu wörtlich, betrachten die Welt als Kulisse und sich selbst als Helden einer Geschichte. In Extremfällen kann das zu übersteigerter Selbstbezogenheit, Kontrollwut und mangelnder Kritikfähigkeit führen – dem sogenannten Main Character Syndrome.
Schon in den 1990er Jahren habe es eine Debatte um “Hyper-Individualisierung” gegeben, sagt Lukas Maher. Der Psychologe und Psychotherapeut hat vor kurzem das Buch “Trigger, Trauma, toxisch. Die 45 größten Mental-Health-Irrtümer” veröffentlicht. Es räumt mit Halbwissen auf und erklärt grundlegende Begriffe, die in der “Pop-Psychologie” zu verschwimmen drohen. So nennt Maher den Hype um #MentalHealth, und auch sonst findet er anschauliche Beispiele, die er einleuchtend erklärt.
Das “Main Character Syndrome” stellt der Autor im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in einen größeren Zusammenhang. Spiritualität sei für den Menschen bedeutsam, auch für dessen seelische Gesundheit – doch in den vergangenen Jahrzehnten sei sie vielfach “verloren gegangen”. Wenn alle ihre eigenen Hauptdarsteller sind – immer im Mittelpunkt, alle anderen Statisten -, dann sei es kein Wunder, dass sich immer mehr Leute “total isoliert” fühlten, sagt Maher. “Es geht kaum noch um Verbundenheit oder darum, sich umeinander zu kümmern.”
Auch die titelgebenden Vokabeln seines Buchs sieht Maher kritisch. “Schöner wäre es, wenn wir mehr Begriffe wie Miteinander in der Öffentlichkeit hätten – weniger Trigger und toxisch.” Häufig werde Sprache aus dem therapeutischen Bereich genutzt, um andere Menschen abzuwerten – etwa als Narzissten – oder um sich selbst vor Kritik zu schützen, nach dem Motto: “Ich kann nicht anders, das ist mein Bindungsstil.”
Ebenso seziert der Psychotherapeut, der auch auf Instagram über sein Fachgebiet aufklärt, altbekannte Konzepte. Zum Beispiel “Co-Abhängigkeit”, wie seit den 1970ern häufig Menschen in Beziehungen mit Suchtkranken beschrieben werden: “Diese Co-Abhängigen”, schreibt Maher, “sollen unfähig sein, gesunde Grenzen zu setzen, um dem Gegenüber zu helfen oder dessen Verhalten abzufangen.”
Die Anonymen Alkoholiker wollten mit dem Ausdruck ursprünglich das Leid der Angehörigen von Menschen mit Suchterkrankung deutlich machen; häufig genutzt wurde und wird er laut Maher aber vor allem, um den – meist weiblichen – Angehörigen der Erkrankten eine Verantwortung zuzuweisen. In der Forschung sei das Konzept umstritten. Sinnvoller als solche Labels fände es der Autor, “einen Blick in unser Beziehungsverhalten und unser soziales Umfeld” zu werfen – und kritisch zu prüfen, wo man sich vielleicht unterordne, ohne es zu wollen, und wie man möglicherweise Unterstützung finden könne.
Das Beispiel zeigt, was Studien belegen: Schwere psychische Erkrankungen, zu denen Süchte zählen, halten die meisten Menschen weiterhin lieber auf Abstand. “Wer sich selbst als Held betrachtet, kann nicht psychisch krank werden”, erklärt Maher – um gleich hinzuzufügen, dass etwa in den Marvel-Comics die allermeisten Figuren mit Störungen oder Traumata zu kämpfen haben. Wenn sich Vorurteile Bahn brechen, sei das “fatal, aber immerhin ur-ehrlich”: Es zeige, dass ganze Teile der Bevölkerung weder von Lifestyle-Coaches noch von seriösen Angeboten erreicht würden.
Darüber hinaus weist der Experte angesichts globaler Krisen und sozialer Ungleichheit auf die Grenzen dessen hin, was Psychotherapie auffangen könne. “Wenn jemand die Miete nicht bezahlen kann, unter schlechten Arbeitsbedingungen leidet und sozial isoliert ist, ist es ein Schlag ins Gesicht, zu sagen: Arbeite mal an deinem Mindset.” Umgekehrt könne es etwa die Symptome einer Depression lindern, wenn jemand nach Mobbing den Arbeitsplatz wechsle. “Es gilt, beides mitzudenken – das Individuum und die sozialen Umstände.”