Experte: Kriminalstatistik oft “zu kurzfristig” betrachtet

Nach den Gewalttaten von Mannheim und Solingen sei bei ihm “fast kein Tag ohne Medienanfragen vergangen”, sagt der Tübinger Kriminologe Jörg Kinzig. Doch er mahnt zu Vorsicht bei der Interpretation der Kriminalstatistik.

Kriminologen mahnen dazu, steigende Kriminalitätszahlen in bestimmten Deliktsbereichen nicht isoliert zu betrachten. “Meistens wird zu kurzfristig gedacht”, sagte Jörg Kinzig, Präsident der Kriminologischen Gesellschaft, einer Vereinigung deutscher, österreichischer und schweizerischer Kriminalitätsforscher, am Donnerstag vor Journalisten. Wenn laut der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts (BKA) Straftaten in einem Bereich innerhalb eines Jahres gestiegen seien, könne dies verschiedene Ursachen haben. “Wir Kriminologen würden sagen: Vorsicht! Wir müssen uns die Entwicklung in einem längeren Zeitraum anschauen, mindestens über zehn Jahre.”

Tue man dies, stelle man “nicht selten fest, dass dieser Anstieg in einer Schwankungsbreite liegt, die wir schon länger beobachten und die in der Regel nicht so aufregend ist”. Die Polizeiliche Kriminalstatistik werte zudem immer nur Hellfeld-Daten aus. “Über das Dunkelfeld wissen wir relativ wenig”, betonte Kinzig, der Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen ist.

“Es kann sein, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik zwar einen Anstieg in einem Kriminalitätsfeld ausweist, es aber real gar kein Anstieg ist, weil die Bürger sensibilisiert worden sind und mögliche Straftaten mehr anzeigen, sagte Kinzig. “Dann wäre das nur eine Verschiebung vom Dunkelfeld ins Hellfeld – und überhaupt kein realer Anstieg.”

Kriminologen versuchten, zu einer Einordnung beizutragen und “zu einer Versachlichung der Debatte”. Man nehme jedoch insbesondere nach den Gewalttaten von Mannheim und Solingen eine “massive Aufgeregtheit” wahr, sagte Kinzig. Der tödliche Messerangriff von Mannheim und der mutmaßlich islamistische Terroranschlag von Solingen seien “für die Betroffenen grauenhaft und man muss natürlich präventiv alles daransetzen, dies zu verhindern”. Aber man müsse solche Straftaten auch in die Gesamtentwicklung einordnen.

Nach Mannheim und Solingen und Mannheim sei bei ihm “fast kein Tag ohne Medienanfragen vergangen”, sagte der Kriminologe. Anfragen von Medien bei Kriminologen zur Einordnung von Verbrechen und Kriminalfällen nähmen “seit Jahren zu”. Gleichzeitig hätten sich die Bedingungen verschlechtert, unter denen Kriminologen diese Aufgabe wahrnähmen. Kinzig forderte “bessere statistische Datengrundlagen”.

Er äußerte sich zum Auftakt zur 18. Fachtagung der Kriminologischen Gesellschaft, die vom 26. bis 28. September an der Universität Tübingen stattfindet.