Ein Ort zum Nachdenken und Andenken soll es sein, zum Innehalten und Reflektieren. So erklärt Matthias Loyal, Vorstand des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM), den neuen Denkort, der am Freitag in Wiesbaden eingeweiht wird. Er erinnert an die Zeit des Nationalsozialismus in den Evangelischen Erziehungsheimen am Geisberg.
„Die Geschichte des EVIM war bereits gut erforscht, aber sie hatte gewissen Lücken“, erläutert Loyal. Das 175-jährige Bestehen, das EVIM in diesem Jahr feiert, nahm der Verein deshalb zum Anlass, insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus erneut zu erforschen. Im Zentrum stand dabei die Frage, was mit den Kindern geschehen war, die auf Geheiß der Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren aus den Erziehungsheimen genommen und in staatlichen Einrichtungen untergebracht worden waren.
Vier Kinder-Biografien konnten die Historikerinnen und Historiker sicher rekonstruieren. Sie alle starben zwischen 1941 und 1944 in Idstein oder Hadamar, weshalb von einer Ermordung im Rahmen der „Euthanasie“-Verbrechen auszugehen sei. Viele weitere Biografien bleiben im Dunkeln, die weiteren Lebenswege der Kinder konnten nicht mehr vollständig rekonstruiert werden. „Natürlich haben wir geahnt, dass es schwierige Ergebnisse sein würden“, sagt Loyal, „aber dem wollten wir uns stellen.“
Die evangelischen Erziehungsheime auf dem Geisberg existierten bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts, später auch mit eigener Schule. Ab den 1930er-Jahren waren hier Kinder untergebracht, die als schwer erziehbar galten, schreibt die Geschichtsagentur Guttmann Grau und Partner, die EVIM mit der Erforschung der Historie beauftragt hat. Doch 1935 habe die Regierung begonnen, rigoros gegen kirchliche Einrichtungen vorzugehen. Die Träger seien genötigt worden, sich den staatlichen Weisungen zu fügen, ansonsten drohe die Herausnahme all der Kinder, die auf öffentliche Kosten in den Einrichtungen lebten. Dieser „Machtübernahme“, wie die Forscher schreiben, widersetzte sich die Leitung der Heime auf dem Geisberg, woraufhin etwa 90 Prozent der Kinder in öffentliche Einrichtungen verlegt wurden.
Was die Wissenschaftler ebenfalls herausfanden: Bisherige Berichte der EVIM über ihr Handeln im Nationalsozialismus waren teilweise beschönigend. „EVIM wurde dabei als Opfer der Nationalsozialisten dargestellt, aber das ist nur die halbe Wahrheit“, sagt Loyal. Denn obwohl das Erziehungsheim sich Mitte der 30er-Jahre den staatlichen Anweisungen widersetzte, sei auch hier im nationalsozialistischen Geist erzogen worden. Zwangssterilisationen etwa habe man in vorauseilendem Gehorsam durchführen lassen.
Die Geschichtswissenschaftler zeigen, dass auch weite Teile der evangelischen Kirche der Idee, erbkranke Personen unfruchtbar zu machen, positiv gegenüberstand. Auch auf dem Geisberg wurden mindestens 15 Personen aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbranken Nachwuchses“ zwangssterilisiert. Die Historiker gehen davon aus, dass dies von Heimleiter und -lehrer mindestens geduldet, wenn nicht befürwortet wurde.
Unter dem Motto „Die Zeder schweigt nicht“ hat der Wiesbadener Künstler Nabo Gaß nun ein Kunstwerk und damit einen Denkort gestaltet. Er spielt mit der stillen Zeugin, der 200 Jahre alten Zeder auf dem Gelände am Geisberg. Stelen, die die Äste des alten Baumes stützen, tragen die Namen der Ermordeten und regen mit Gedichten und Zitaten zum Nachdenken an. Mit dem Denkort wolle man sich einerseits der Vergangenheit stellen und an sie erinnern, sagt Loyal, und andererseits zum Nachdenken über Gegenwart und Zukunft anregen. „Die Frage, wie wir uns in autoritären Systemen verhalten, ist weltweit sehr aktuell.“