Eine „Sehhilfe“ für Staat und Kirche

Bald wird ein neuer Landtag gewählt, und die Diakonie warnt schon vor dramatischen Fehlentwicklungen. Nicht nur die Politik müsse sich ändern – auch die Kirche.

Die Tafel dürfen die staatliche Grundsicherung nicht ersetzen, fordert die Diakonie
Die Tafel dürfen die staatliche Grundsicherung nicht ersetzen, fordert die DiakonieRolf Zöllner / epd

Hannover. Die Sorge vor den Folgen um sich greifender Armut wächst. „Wir leben seit zwei Jahren in einem Krisenmodus. Besonders gebeutelt sind die, die es schon immer nicht leicht hatten“, sagt der niedersächsische Diakonie-Chef Hans-Joachim Lenke. Doch mittlerweile sei die Armut auch für andere Gruppen zu einer realen Bedrohung geworden, so Lenke weiter. Vor allem die Inflation sieht der Theologe als Gefahr. Viele, die bisher sparen konnten, würden dieses Geld künftig für Energie und Lebensmittel ausgeben müssen. „Die Mittelschicht wird von unten angefressen.“

Mehr denn je sei es daher die Aufgabe des Staates, für Ausgleich und Umverteilung zu sorgen, betont Lenke. „Jeder Mensch in diesem Land muss ein Leben in Würde führen können.“ Dazu gehöre die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der Staat sei hier in der Pflicht. „Ich erhoffe mir vom Gesetzgeber eine viel höhere Armutssensibilität.“

Was die Diakonie fordert

Das Diakonische Werk in Niedersachsen veröffentlicht deswegen in rechtzeitig vor der Landtagswahl in Niedersachsen, die Anfang Oktober stattfindet, ein entsprechendes Positions- und Diskussionspapier. Die Liste mit den drängendsten Aufgaben reicht vom Aktionsplan gegen Armut bis zum Digitalisierungspakt in der Sozialwirtschaft. Auch längst bekannte Forderungen wie der Ausbau von Familienzentren und die Kindergrundsicherung tauchen in dem Papier auf. Zwar gebe es viele Möglichkeiten, Hilfen zu beantragen, sagt Lenke. „Aber man muss ein Sozialexperte sein, um sich durch diesen Dschungel zu arbeiten.“ Stattdessen sollten die Leistungen für Bedürftige gebündelt werden.

Hans‐Joachim Lenke
Hans‐Joachim LenkeJens Schulze / epd

Auch andere Hilfsangebote für Bedürftige wie die Tafeln seien längst an ihre Grenzen gekommen, kritisiert Lenke. „Tafeln sollen unterstützen und ergänzen“, so Lenke. Aber der Staat dürfe nicht mit ihrem Angebot rechnen. Weiterer Kritikpunkt des Diakonischen Werks ist die Berechnung des Regelsatzes in der Grundsicherung. „Er bildet nicht ab, was ein Mensch tatsächlich braucht“, sagt Lenke. Und durch die Inflation werde die Lücke noch größer. Daher sei es geboten, die Sozialleistungen insgesamt zu erhöhen. „Wir leben in einer sozial schwierigen Situation. Das muss Folgen haben. Deshalb fordern wir eine Erhöhung des Regelsatzes um 100 Euro.“ Mit Sorge sieht Lenke allerdings, dass die nötigen Sozialausgaben der geplanten Erhöhung der Rüstungsausgaben zum Opfer fallen könnten.


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Doch nicht nur die Politik sei gefordert, auch die Kirche müsse dringend „armutssensibler“ werden, betont Lenke. „Wer sagt, dass es in seiner Gemeinde keine Armen gibt, der sollte mit offenen Augen über die Kirchengrenzen hinaus schauen.“ Er schäme sich heute dafür, dass er selbst die Not mancher Konfirmanden nicht bemerkt habe, als er noch Gemeindepastor war. Wie zufällig seien sie vor Freizeiten krank geworden, sagt Lenke selbstkritisch. Mittlerweile habe er verstanden, dass ihnen das Geld für die Fahrten gefehlt habe.

Blick geschärft

Mitarbeitende der Diakonie könnten Gemeinden helfen, ihren Blick zu schärfen und armutssensibler zu werden. Auch das neue Positionspapier der Diakonie sieht Lenke als Angebot und „Sehhilfe“ für Staat und Kirche.