Eine neue Heimat in der evangelischen Kirche

Früher war er katholischer Priester, heute ist er Pastor in Keitum auf Sylt. Ingo Pohl hat sich langsam von der katholischen Kirche entfernt – und ist jetzt angekommen.

Ingo Pohl in der St.-Severin-Kirche von Keitum
Ingo Pohl in der St.-Severin-Kirche von KeitumSabine Ludwig

Keitum/Sylt. Malerisch ist die Insel immer, egal zu welcher Jahreszeit. Touristen kommen immer, selbst im Winter. Doch 2021 ist alles anders. Die Pandemie hat auch Sylt fest im Griff und diktiert schon seit Langem die Besucherzahlen. Gottesdienste finden unter strengen Auflagen statt. Trotzdem: „Tritt ein“ fordert ein Schild die Besucher von St. Severin in Keitum auf.

Ingo Pohl ist Pastor an der „schönsten Kirche Nordfrieslands“, wie er selbst gern sagt. An diesem „magischen Ort zwischen Himmel und Erde“ wirkt er seit mehr als vier Jahren. Der 53-Jährige hält an seinen Predigten fest. „Gerade in dieser Zeit entdecken wir die Gemeinschaft als Lebensquelle.“

Neue Bindung zum Gottesdienst

50 Gläubige haben Platz, doch zurzeit kommen etwa 30. Das wird sich mit dem Mai ändern. Dann soll auch Sylt als Modellregion für Touristen geöffnet werden. Auch die kommen gern in die frühere Seefahrerkirche mit dem spitzen Turm, der schon seit Jahrhunderten und bis zum Bau von Leuchttürmen die einzige Orientierung für Seeleute auf hoher See war.

Zumal das romanische Gotteshaus auf dem 18 Meter hohen Sylter Geestkern, dem höchsten Ort der Insel, erbaut wurde. Pohl vergleicht die Präsenzgottesdienste in der Kirche aus dem 12. Jahrhundert, die sie gerade mit den wenigen feiern, mit den Restaurants, die während der Pandemie ihr Menü „to go“ anbieten: „Es entsteht eine Bindung, die auch nach Corona anhalten wird und Menschen zu Gemeindeleben führt.“

Ingo Pohl
Ingo PohlSabine Ludwig

Pohl spricht aus, was er denkt. Der frühere Priester hat sich von der katholischen Kirche getrennt. Das war 2005. Wie lange er für diesen Prozess des Abschieds brauchte, weiß er nicht, denn es sei zeitlich nicht zu erfassen gewesen.

„Der Weiße Riese kann weißer waschen als weiß!“, zitiert er. Der Werbespot aus seiner Jugend trug letztendlich zum Entschluss bei. Leben und arbeiten wollte er nicht mit einem Widerspruch. Denn weiß sei nicht mehr zu steigern. „Stehen wir nicht alle in der Gnade Gottes durch die Taufe?“, fragt er. Er kommt auf den Slogan zurück, vergleicht und wägt ab: „Schließlich gibt es nicht nur ein bisschen getauft, oder?“

Schmerzhafter Abschied

Dass Priester und Bischöfe Gott näher stehen als Getaufte und ihr Amt wichtiger sei als dieses Sakrament, betrachte er als genau die Antithese, die er nicht bereit war zu teilen. „Ich bin dankbar, meine neue Heimat in der evangelischen Kirche gefunden zu haben.“ Doch trotz allem lebe er das für ihn Gute im Katholischen weiter. Der Abschied von der katholischen Kirche sei schmerzhaft gewesen: „Ich habe eine Heimat verloren“, sagt er.

Ingo Pohl ist nicht nur Pastor, sondern auch Psychotherapeut, Krankenhausseelsorger und Brandmeister der freiwilligen Feuerwehr. Und er ist mit einem Mann verheiratet. „Die Erwartungen an meinen Partner sind die gleichen wie an die Frau eines Pastors. Der Lebensgefährte wird zu einer Person des öffentlichen Lebens. Meines Wissens bin ich der erste schwule Pastor auf Sylt“, sagt der gebürtige Berliner.

Buntes Insel-Leben

„Schon in den 1970er-Jahren gab es auf der schillernden Nordseeinsel eine bunte homo- und hetero­sexuelle Gesellschaft. „Nennenswerte Probleme wegen meines Schwulseins habe ich hier nie gehabt!“ Auch spielte es keine Rolle bei Pohls Entschluss, sich von der katholischen Kirche abzuwenden: „Vielleicht war es im Hintergrund ein Thema meiner Vorgesetzten, für mich persönlich war es das auf jeden Fall nicht.“

Pohl provoziert gern: „Die katholische wie auch die evangelische Kirche könnten reformfähiger sein. Sie erkennen nicht, dass sich eine Gemeinde auch anders aufbauen lässt. „Wir müssen vom pastorenzentrierten Denken weg“, so Pohl. „Weg von der versorgten Gemeinde in immer größer werdenden Einheiten hin zu der um sich selbst sorgenden Gemeinde.“ Gerade in Zeiten des Pastorenmangels und ganz besonders in kleinen Kirchengemeinden sollten die Mitglieder auch selbst befähigt werden, Gottesdienste zu halten. Denn jeder, der getauft ist, kann das.“

Die Kirche St. Severin in Keitum auf Sylt
Die Kirche St. Severin in Keitum auf SyltHolger Weinandt / Wikimedia Commons

Ihm fehlen Menschen, die vor Ort den Glauben bezeugen. Das kann an Stammtischen genauso gut sein wie bei der Feuerwehr. Wichtig ist dabei, auf Talente zu achten und diese zu fördern. Ihm gefällt die Idee, sogenannte Hauskirchen ins Leben zu rufen. Zum Beispiel in entlegenen Dörfern, zusätzlich zu monatlich ein, zwei Gottesdiensten in der Hauptkirche. „Das war bei Jesus Christus auch nicht anders“, sagt er. „Wir werden an diesen Punkt kommen.“

Über den Kirchturm hinaus

Pohls Antwort auf die sinkende Zahl der Pfarrer polarisiert. Er denkt zukunftsorientiert und pragmatisch. Seine Ansichten hat er wöchentlich in der Inselzeitung veröffentlicht. „Über den Kirchturm hinaus“ lautete seine Kolumne. „Sie war anders als das übliche ‚Wort zum Sonntag‘-Blabla, gewürzt mit aktuellen Themen, die ich aus Sicht eines Pfarrers kommentiert habe. Klar, dass man sich daran auch reiben konnte.“ Nach einem Jahr war Schluss.

Pohl wollte sich moderner geben und mehr Leute erreichen. „Der Herr der Worte“ lautete schließlich sein Podcast, den er über die Audio-Plattform Spotify anbot. Doch dem Anbieter waren Pohls 4000 Fans zu wenig. Es folgte ein Video-Blog namens „Dem Himmel sei Dank“, den er gemeinsam mit einem Webdesigner umsetzte. „Von Technik verstehe ich nicht viel“, sagt er mit einem Schulterzucken.

Maritimer Gottesacker

Im Kirchhof birgt der maritime Gottesacker eine Schatzkammer an Erinnerungen. Die Namen bekannter zeitgenössischer Verstorbener finden sich ebenso auf Steintafeln wie Erinnerungen an frühere Walfänger und Seeleute. Ihre Lebensgeschichten gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Pohl weist auf große Steintafeln mit maritimen Symbolen im hinteren Teil des Friedhofes.

Die Insel fasziniert ihn seit seiner Kindheit: „Ein-, zweimal pro Jahr waren wir hier im Urlaub. Die langen Strände, die unendliche Weite und der Wind, der die bösen Geister wegweht, haben meine Sylt-Liebe schon damals begründet.“ Doch das Leben auf der Promi-Insel hat sich verändert. Die Grundstückspreise sind für Einheimische nicht mehr zu bezahlen, Altersarmut, Depressionen und die Zahl der Suchtkranken nimmt zu. Die Selbstmordrate ist überdurchschnittlich. „Auf 18.000 Einwohner kommen acht bis zehn Suizide. Meistens sind ältere Menschen betroffen. Bundesweit liegt die Rate bei 12,6 auf 100.000 Einwohner.“

Der Pastor versteht sich daher nicht nur als Seelsorger für die 1800 Gemeindemitglieder, die zu St. Severin gehören. Auch für Urlauber hat er ein offenes Ohr. Und für die Jugend, deren Freizeitmöglichkeiten immer knapper werden. Clubs und Diskotheken sterben aus. „Die Zeit der wilden 70er und 80er ist endgültig vorbei.“ Dass aber die Insel allein in den Sommerwochen 2020 von 200.000 Gästen auf knapp 18.000 Einwohner regelrecht überschwemmt wurde, gefiel den Insulanern gar nicht.