Eine Demonstration und Andacht

Seit Jahrzehnten organisiert der Wedeler Pastor Hans-Günter Werner die Mahnwache vor dem Kernkraftwerk in Brokdorf. Jetzt findet sie zum 400. Mal statt.

Pastor Hans-Günter Werner vor dem Kernkraftwerk Brokdorf
Pastor Hans-Günter Werner vor dem Kernkraftwerk BrokdorfMirjam Rüscher

Wedel/Brokdorf. Es ist kurz vor 14 Uhr. Am großen Metalltor vor dem Atomkraftwerk Brokdorf hat sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Sie hängen bunte Transparente auf, breiten eine Decke auf dem Boden aus, eine Kerze wird darauf gestellt. Die Wachleute schauen gelassen zu, sie kennen das schon. Einige der Demonstranten begrüßen sie wie alte Freunde.

Auch Hans-Günter Werner. Der Pastor aus Wedel begrüßt seine Mitstreiter zur Mahnwache vor dem Kernkraftwerk. Seit mehr als 30 Jahren kommt Werner an jedem 6. eines Monats hierher nach Brokdorf an der Elbe, um ein Zeichen für die weltweite Abrüstung und den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie zu fordern. Am Mittwoch, 6. November, wird der 72-Jährige sich zum 400. Mal vor dem Tor des Kernkraftwerks einfinden.

Anfangs wie „Terroristen“ behandelt

Der Ablauf ist immer der gleiche. Erst wird gesungen, meist zwei oder drei Lieder. Bei der anschließenden Vorstellungsrunde darf jeder sagen, was ihn beschäftigt. Werner betont: „Auch wenn wir nur wenige sind, ist es wichtig, dass wir uns treffen.“ Die Mahnwache ist nicht nur Demonstration, sondern auch Andacht. Der Pastor liest aus der Bergpredigt. Nach weiteren zwei Liedern macht sich die Gruppe auf den Weg vom Haupttor zum Gedenkstein.

„Mir war von Anfang an wichtig, dass wir keine Feindschaft aufbauen. Wir haben deutlich gemacht, dass wir nicht gegen die Leute hier kämpfen, sondern für das Leben“, erzählt der Pastor auf dem Weg zum Gedenkstein. Anfangs seien die Demonstranten von der Polizei weggetragen und verhaftet worden, man habe sie wie Terroristen behandelt. Doch je länger der Protest friedlich ablief, je mehr Zeit verging, desto schwieriger sei es für die Polizei gewesen, Leute zu finden, „die uns als Gegner sahen“, so Werner.

Er gehört zu den Pastoren, die die Mahnwache ins Leben gerufen haben, 1986 nach Tschernobyl war das. Die Inbetriebnahme des Kraftwerks in Brokdorf war für Oktober 1986 geplant, der Protest begann schon vorher am Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, am 6. August. „Es waren ein paar Tausend Leute dabei. Wir haben uns immer in Hamburg zur Vorbereitung getroffen. Wir haben damals unterschrieben, so lange weiterzumachen, bis das Kraftwerk abgeschaltet ist. Ich bin der Einzige, der sich dran gehalten hat“, sagt der Pastor.

Gedenken an Tschernobyl

Schon immer sei er politisch gewesen. Das habe ihm auch immer Ärger mit der Kirchenleitung eingebracht. Mittlerweile ist er schon seit 30 Jahren im erzwungenen Ruhestand. Als Spezialpastor sei er damals schon für die Arbeitswelt zuständig gewesen, bis heute kümmert er sich um Arbeitslose.

Am Gedenkstein angekommen, tritt die Gruppe im Halbkreis zusammen. Es wird der Toten und Kranken von Tschernobyl gedacht. Es ist still. Aus einem vorbeifahrenden Auto dröhnt laute Musik. Es wird gebetet und noch einmal gesungen. Dann geht es ein paar Meter weiter auf den Deich. Die Elbe liegt den Demonstranten zu Füßen, hinter ihnen ist die markante weiße Kuppel des Atomkraftwerks zu sehen. In zwei Jahren muss das AKW spätestens abgeschaltet werden. Bis dahin wird Hans-Günter Werner weiterhin hierher fahren, an jedem 6. eines Monats.