„Ein Spalt im Eisernen Vorhang“

Bis vor 30 Jahren lag das schleswig-holsteinische Büchen an der innerdeutschen Grenze. Die Bahnhofsmission kümmerte sich damals um Abgeschobene, Rentner auf West-Besuch und das DDR-Zugpersonal.

Helga Winterberg und der Pastor Jens-Peter Andresen an den Bahngleisen des Bahnhofs in Büchen
Helga Winterberg und der Pastor Jens-Peter Andresen an den Bahngleisen des Bahnhofs in BüchenNadine Heggen / epd

Büchen. Vier Gleise, ein Bäcker und eine Fahrgastinformation: Der Bahnhof in dem kleinen Ort Büchen im südöstlichen Schleswig-Holstein ist seit 1995 auf ein Minimum geschrumpft. Zur DDR-Zeit aber war er im Norden ein wichtiger innerdeutscher Grenzbahnhof – und die Bahnhofsmission betreute während der deutschen Teilung fünf Millionen Reisende.

„Die meisten hatten ja nichts. Sie waren dankbar für unsere Hilfe“, erinnert sich Helga Winterberg. Die 88-Jährige war von 1982 bis 1992 Leiterin der Büchener Bahnhofsmission. Mit bis zu 40 ehrenamtlichen Helfern kümmerte sie sich rund um die Uhr um die Reisenden, die täglich aus Berlin, Leipzig und Dresden auf dem kleinen Grenzbahnhof Zwischenstation machten. Wer nicht am gleichen Tag zu seinem Zielort weiterreisen konnte, durfte übernachten. Zehn Betten standen seit 1974 zur Verfügung.

Die Hauptreisenden waren Rentner, denen es ab 1964 erlaubt war, bis zu vier Wochen im Jahr Verwandtschaft im Westen zu besuchen. Mitte der 1980er Jahre bekamen auch einige Jüngere Reisegenehmigungen. Vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hatten die Bahnhofsmissionen den Auftrag erhalten, an jeden DDR-Reisenden eine Tasse Kaffee und eine Banane zu verteilen. Südfrüchte waren selten in der DDR.

Masterarbeit über Bahnhofsmission

30 Jahre nach dem Mauerfall hat der Hamburger Jann-Thorge Thöming in seiner Masterarbeit die Geschichte der Büchener Bahnhofsmission erforscht und festgestellt: Sie war ein wichtiger Spalt im Eisernen Vorhang. Thöming, der seit 2017 als Referent beim Verband der Evangelischen Bahnhofsmission in der Nordkirche arbeitet, fand bei seinen Recherchen heraus, dass viele DDR-Bürger ihre Reise bewusst über Büchen planten.

Grund war nach seinen Angaben die Willkommenskultur mit Verköstigung und offenen Gesprächen. „Trotz der restriktiven Politik des DDR-Regimes gab es in Büchen deutsch-deutsche Nachbarschaft“, erklärt Thöming. Durch die enge Zusammenarbeit mit dem Kreissozialamt, den Ordnungsbehörden und dem Bundesgrenzschutz sei Büchen zudem ein wichtiger Fixpunkt für entwurzelte Jugendliche und Abgeschobene aus der DDR gewesen.

Eine Helferin verteilt Kaffee an DDR-Reisende Foto: epd
Eine Helferin verteilt Kaffee an DDR-Reisende Foto: epd

Die Büchener Bahnhofsmission gründete sich 1953, als in Hamburg der evangelische Kirchentag stattfand. 10.000 Besucher aus der DDR wurden damals in Büchen empfangen und verpflegt. Zwischen Dezember 1955 und Februar 1959 reisten dann nach Angaben der Gemeinde Büchen 247.000 Spätaussiedler, deutsche Kriegsgefangene und Spätheimkehrer aus Osteuropa über den Bahnhof Büchen in die Bundesrepublik ein. Bei der Zugeinfahrt wurden sie von Posaunenchören aus Lauenburg und Umgebung begrüßt.

Ergriffen von der Erinnerung

Die herzliche Willkommenstradition stimmte mit den Bestrebungen der Bonner Regierung überein, die DDR-Bürger zu unterstützen. Zudem wollte Bonn sich vom DDR-Regime abgrenzen, das Bahnhofsmissionen 1956 verboten hatte. So wurden die westdeutschen Bahnhofsmissionen zu einem Großteil aus Bundesmitteln finanziert.

Der Büchener Pastor Jens-Peter Andresen hat die Bahnhofsmission jahrzehntelang begleitet. Noch heute ist er ergriffen, wenn er sich an Begegnungen mit den DDR-Reisenden erinnert. „Sie hatten ja nicht viel, was sie uns zum Dank mitbringen konnten. So schenkten sie uns die Wappen ihrer Heimatstädte.“ Zwei Wände der Bahnhofsmission waren am Ende vollgehängt.

Die Atmosphäre damals auf dem Büchener Bahnhof lasse sich nur schwer beschreiben, sagt Andresen. Auf der einen Seite die freudige Erwartung derer, die aus der DDR zu Verwandten nach Lüneburg oder Hamburg weiter reisen durften. Auf der anderen Seite die Trauer derjenigen, die wieder nach Hause mussten und in Büchen in den DDR-Zug umstiegen. Nicht selten war Andresens seelsorgerlicher Beistand auch gefordert, wenn DDR-Bürger von ihren Verwandten im Westen an der Tür abgewiesen wurden und weinend zur Bahnhofsmission zurückkehrten.

Wenn die Stasi im Zug saß

Hinzu kam das DDR-Eisenbahn-Personal, das eigentlich zu den Westdeutschen keinen Kontakt haben durfte. „Aber natürlich kannte man sich. Es gab in Büchen keinen Aufenthaltsraum. Also wärmten sich die Lokführer bei uns auf, holten sich Mittagessen“, sagt Helga Winterberg. Die Bahnhofsmission hatte für das DDR-Bahnpersonal sogar ein kleines Budget. Es gab aber auch Tage, an denen Lokführer nicht grüßten und stur geradeaus blickten, wie Winterberg sich erinnert. Sie und ihre Helfer hätten dann gewusst, dass sie in Begleitung eines Stasi-Mitarbeiters gewesen seien.

Die Grenzöffnung am 9. November 1989 brachte die Bahnhofsmission noch einmal wochenlang an ihre Belastungsgrenze. „Wir wurden förmlich überrannt“, sagt Winterberg. Bis zu 400 Prozent überbelegte Züge mit DDR-Bürgern waren keine Seltenheit. Doch mit der deutschen Einheit verlor die Büchener Bahnhofsmission immer mehr an Bedeutung. Am 31. Dezember 1995 wurde sie nach 42 Jahren geschlossen. Die Gebäude sind inzwischen abgerissen. Helga Winterberg: „Es ist erschütternd, was aus dem zentralen Ort geworden ist.“ (epd)