Wenn am Samstag (18. Oktober) rund 40 Zeitzeugen beim Erinnerungszug zu 80 Jahre DP-Lager Föhrenwald durch Waldram ziehen, schnurrt Geschichte auf ein paar Straßenzüge zusammen. Vom Adolf-Hitler-Platz zum Roosevelt-Square zum Seminarplatz: Allein der Wandel der Straßennamen zeigt, was der beschauliche Ortsteil von Wolfratshausen (Landkreis Bad Tölz) von 1940 bis 1957 alles erlebt hat. Heute erinnert ein Bürgerverein an diese wechselvolle Geschichte – und bringt Überlebende, Nachfahren und heutige Bewohner im Projekt „Die Rückkehr der Föhrenwalder“ zusammen.
Die Geschichte des Viertels begann 1940, als die Nazis nahe der Isar eine Mustersiedlung für Rüstungs- und Zwangsarbeiter der nahegelegenen Munitionsfabrik errichteten. 1945 begründeten die amerikanischen Befreier in denselben spitzgiebligen Reihenhäuschen das letzte „Schtetl“ auf europäischem Boden: Das Lager für „Displaced Persons“ (DP) bot heimatlos gewordenen Juden in Föhrenwald eine vorübergehende Bleibe. Ab 1956 schließlich schuf die Erzdiözese München und Freising in dem Viertel, das nun den Namen Waldram bekam, katholischen Heimatvertriebenen aus dem Osten einen Platz für den Neuanfang.
Drei Zeitabschnitte, dreimal Zwang, Flucht, Vertreibung: Diese wechselvolle Historie können Interessierte seit sieben Jahren im „Erinnerungsort Badehaus“ erleben, dem ehemaligen Männer-Badehaus des DP-Lagers. Seit 2012 hat der von engagierten Einheimischen gegründete Verein „Bürger fürs Badehaus Waldram-Föhrenwald“ das heruntergekommene Gebäude in über 70.000 ehrenamtlichen Arbeitsstunden renoviert und zum Erinnerungsort umgebaut. Seit 2018 präsentiert der Verein in dem mehrfach ausgezeichneten nichtstaatlichen Museum eine multimediale Dauerausstellung unter der Überschrift „Migration“.
Dass die Geschichten von NS-Zwangsarbeitern, jüdischen DPs und Heimatvertriebenen am historischen Ort unter einem Museumsdach gezeigt werden, sei einzigartig, beschreibt Jonathan Coenen, stellvertretender Vereinsvorsitzender, die Besonderheit der Einrichtung. Der 28-jährige Kulturwissenschaftler ist Teil eines 50-köpfigen, weitgehend ehrenamtlichen Teams. Ein Viertel davon ist unter 30 Jahre alt, nur zehn Personen bekommen als Minijobber, Teil- oder Vollzeitkräfte Gehalt, stets befristet und aus Projektmitteln finanziert. Dauerhaft gefördert zu werden, ist Coenens großes Ziel für das „Badehaus“ – doch gerade sein ungewöhnlicher Zuschnitt ist dabei bislang eher hinderlich.
Der stellvertretende Vereinschef ist einer der vielen „jungen Badehäusler“, die die Vereinsarbeit prägen. Schon 2018 stieß er als studentische Hilfskraft dazu. „Wir können hier mitgestalten, das ist unser Haus“, begründet er sein anhaltendes Engagement. Das sei der Initiatorin und Museumsleiterin Sybille Krafft zu verdanken: „Sie lässt uns junge Menschen viel Verantwortung übernehmen, das ist großartig.“
Die Leidenschaft im Bürgerverein begeistert auch Rhiannon Moutafis: Seit ihrem ersten Praktikum Ende 2022 ist die 25-jährige Historikerin dem „Badehaus“ treu geblieben. Aktuell hält sie Kontakt zu den rund 200 ehemaligen Föhrenwaldern im Zeitzeugennetzwerk und promoviert über die Jahre, als das DP-Lager aufgelöst wurde. Sie wolle „Geschichten erzählen, die sonst vergessen würden“, sagt Moutafis. Der Wissensschatz der Zeitzeugen sowie der mittlerweile über 700 Vereinsmitglieder vor Ort und in aller Welt ist für ihre Forschung ein Geschenk.
Dass sich im „Badehaus“ viele junge Leute engagieren, gefällt dem Zeitzeugen Beno Salamander besonders. „Sie setzen sich dafür ein, dass die Erinnerung an diesem geschichtsträchtigen Ort aufrechterhalten wird, dass Demokratie in Deutschland lebendig bleibt, dass es keine Vorurteile gegen andersgläubige oder andersstämmige Menschen gibt“, sagt der 81-jährige Münchner Arzt. 1951 war er als Siebenjähriger ins Lager Föhrenwald gekommen. Seine Eltern hatten eine Odyssee hinter sich: Aus Russland zurückkehrend gelangten sie über verschiedene bayerische DP-Lager mit ihren beiden Kindern Beno und Rachel schließlich nach Oberbayern. Traumata, Krankheit und Zukunftssorgen ihrer Eltern spürten auch alle Kinder in Föhrenwald, und dennoch hat Beno Salamander seine Lager-Kindheit in guter Erinnerung: „Es war eine freie, unbekümmerte Zeit, wir waren stark und wollten einfach leben.“
Auf den Erinnerungszug durch Waldram anlässlich des 80. Jahrestags von Föhrenwald freut er sich: Er hoffe, „vielleicht den ein oder anderen zu treffen, den ich 1956 zuletzt gesehen habe“, sagt Salamander. Jonathan Coenen und Rhiannon Moutafis wiederum hoffen auf interessante Begegnungen zwischen den Einheimischen und den rund 40 „Föhrenwaldern“, die mit ihren Familien aus Deutschland, den USA und Israel anreisen.
„Wir haben 200 Biografie-Tafeln von ehemaligen Bewohnern, die vor den jeweiligen Wohnhäusern präsentiert werden“, erzählt Coenen. Viele Waldramer haben sich dafür gemeldet, auch 110 Schulkinder machen mit: „Das wird toll, wenn die mit den Zeitzeugen ins Gespräch kommen“, freut sich Moutafis. Für das Team ist das Festwochenende eine Gelegenheit, die Arbeit des „Badehauses“ noch stärker in die Öffentlichkeit zu bringen. „Die Hürde, ein Museum zu betreten, ist für viele hoch“, sagt Kulturwissenschaftler Coenen. Doch wenn Geschichte auf die Straße komme, sei sie einfacher zu erleben: „Dann merkt man plötzlich, auf welchem Boden man hier steht.“ (3152/12.10.2025)