Ein Jahr „#ichbinarmutsbetroffen“: Wie ein Hashtag hilft

Vierzehn Millionen Menschen in Deutschland sind von Armut betroffen. Einige von ihnen haben sich vor einem Jahr unter „#ichbinarmutsbetroffen“ zu Wort gemeldet. Eine Zwischenbilanz.

Manche Menschen haben nur ein paar Cent in der Tasche
Manche Menschen haben nur ein paar Cent in der TascheImago / epd

„Hi, ich bin Anni, 39, und habe die Schnauze voll! Ich lebe von Hartz IV und es reicht ganz einfach nicht! Nein, ich kann keine weiteren Kosten senken. Nein, ich kann nicht auf das spritsparende Auto verzichten.“ Mit diesem Tweet vom 17. Mai 2022 brachte Anni W. den Stein ins Rollen. Seitdem posteten Arbeitslose, Geringverdienerinnen, Studierende und Rentner unter „#ichbinarmutsbetroffen“, später auch unter „#gibArmuteinGesicht“, ihre Geschichten.

Anni lebt am Niederrhein in Nordrhein-Westfalen und hat mit ihrer öffentlichen Stellungnahme vielen armen Menschen Mut gemacht. „Aus Wut über Berichterstattungen, die nur darauf abzielen, Betroffenen die Schuld zuzuschustern“, erinnert sich die Mutter an den Auslöser ihres Protests. Damals sei die Stiftung „OneWorryLess“ (deutsch: „Eine Sorge weniger“) an sie herangetreten, die Bewegung war geboren. Einige der Forderungen: Eine unbürokratische Entlastung bei den Energiekosten für Menschen in Armut sowie eine sofortige Erhöhung der Regelsätze auf 678 Euro. Vierzehn Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen.

Arbeitslos seit 2009

Auch Ben hatte sich damals ein Herz gefasst. Der 39-jährige Kölner ist seit 2009 arbeitslos. Früher hat er einmal eine Ausbildung zum Bäcker und Konditor angefangen. Danach habe er über eine Zeitarbeitsfirma in der Farbabfüllung gearbeitet. Dann aber wurde ein Teil der Belegschaft wegen Auftragsverlusten entlassen, Ben gehörte dazu.

„#ichbinarmutsbetroffen“ hat Ben aus der sozialen Isolation geholt: „Ich habe gemerkt, es gibt doch noch viele andere, denen es so geht wie mir“, erzählt er. Er hatte sich und sein Leben fast aufgegeben. „Man hat verlernt, sich Hilfe zu holen“, berichtet Ben, der sich inzwischen in der Kölner Ortsgruppe von „#ichbinarmutsbetroffen“ engagiert.

Im Juni 2022 demonstrieren Mitglieder der Initiative vor der SPD-Zentrale in Berlin
Im Juni 2022 demonstrieren Mitglieder der Initiative vor der SPD-Zentrale in Berlinepdbild / Maria Wagner

Neben ihm sitzt Mitstreiterin Kati. Die 40-Jährige aus Köln ist psychisch krank, wie sie erzählt. Posttraumatische Belastungsstörung, Angststörung, Depression. Seit ihrem 18. Lebensjahr ist sie in Therapie. Schon ihre Mutter war von Armut betroffen.

Kati war von Anfang an bei „#ichbinarmutsbetroffen“ dabei. Sie ist froh, dass sie wieder eine Aufgabe hat. „Wir existieren vor uns hin, das macht krank“, sagt sie, und weiter: „Seit den Preissteigerungen ist die Lage komplett eskaliert“. Auf ihrer Amazon-Wunschliste stehen Toastbrötchen, Kaffeesahne, Kosmetiktücher und Batterien. Solche Listen haben viele Betroffene an ihr Profil gepinnt. Wer möchte, kann einzelne Produkte direkt kaufen und somit Betroffenen helfen.

Für Kritiker der Kampagne ist das ein gefundenes Fressen. „Einige Userinnen und User haben die teuersten Sachen einiger Wunschlisten rausgepickt und gepostet“, erzählt Ben verärgert. Die Folge solcher Beiträge seien Hasskommentare gewesen, berichten die beiden Aktivisten. Gegen einzelne Personen habe es sogar Aufrufe zum Suizid gegeben. Einige Armutsbetroffene hätten sich deswegen wieder aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

Pfarrer kommt zur Demo

Umgekehrt habe es aber auch viele Menschen gegeben, die sich solidarisiert hätten, die etwa zu Demonstrationen der Initiative gekommen sind. In Köln zum Beispiel sei der katholische Pfarrer Franz Meurer immer dabei, berichten Kati und Ben, die in der Domstadt regelmäßig auf die Straße gehen.

Der Protest dürfe nicht nur auf die Armen abgewälzt werden, mahnt der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge. Auch die Mitte der Gesellschaft müsse aufstehen. Der Politikwissenschaftler bezeichnet „#ichbinarmutsbetroffen“ als „historischen Meilenstein“.

Wie Aussätzige behandelt

„Die Aktion hat gezeigt, dass das Menschen sind wie du und ich“, sagt Butterwegge. Arme Menschen würden immer noch häufig „wie Aussätzige“ behandelt. „Wir müssen die Blockaden in den Köpfen der Menschen lösen“, appelliert der Wissenschaftler und Autor, der sich besonders gegen Kinderarmut und für eine bessere Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur starkmacht.

Trotz Hetze: „Die Bewegung ist da und bleibt“, sagt Anni W. als Initiatorin: „Wir wollen uns nicht länger für strukturelle Probleme schämen müssen!“