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“Diebstahl” – Ein Roman über Freundschaft, Suche und Verrat

Ein Edler, eine Erfolgreiche und ein Kämpfer: Abdulrazak Gurnah erzählt die Geschichte dreier Menschen in Tansania fast beiläufig. Mit “Diebstahl” zeigt er, warum er 2021 den Literaturnobelpreis erhielt.

Es ist sein erster Roman seit Verleihung des Literaturnobelpreises 2021: “Diebstahl” des tansanischen Hochschullehrers und Schriftstellers Abdulrazak Gurnah. Anders als frühere Romane ist dieser zeitnah nach der englischen Veröffentlichung im März ins Deutsche übersetzt worden. Dem Erwartungsdruck, den die höchste Literaturauszeichnung der Welt mit sich bringt, hält der 1968 als Flüchtling nach Großbritannien gekommene Autor stand.

Schauplätze sind wie in früheren Romanen die Insel Unguja – besser bekannt als Sansibar – sowie Daressalam, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Tansanias. Gurnah erzählt die Geschichten dreier junger Menschen, die sich – so lässt sich schnell erahnen – im Fortgang treffen. Dann wird sich zeigen, dass ihre Leben eng miteinander verwoben sind.

Gemeinsam haben sie, dass ihr Start ins Leben nicht gerade leicht ist. Da ist Karim, dem Namen nach edel und großzügig – dessen Mutter Raya jedoch wenig von ihm wissen will. Nach einer kurzen und unglücklichen Ehe zieht sie zurück zu ihren Eltern nach Unguja und lässt Karim mehr oder weniger bei ihnen zurück. Sie will raus aus der Enge und ein neues Leben führen.

Anders Khadija, die Mutter Fauzias. Khadija ist nur allzu besorgt um die Tochter, ihr einziges Kind, das überlebt hat, aber von Fallsucht – Epilepsie – geplagt wird, zumindest als Kleinkind. Die Angst der Mutter: Mit dieser Krankheit haben sie keine Chance, Fauzia zu verheiraten. Doch sie, die Siegreiche, lässt sich nicht einengen, hat im Vater einen Komplizen, ist neugierig und intelligent und schafft sich so – sollte man meinen – eine vielversprechende Zukunft.

Badar kennt seine Mutter nicht. Kurz nach seiner Geburt starb sie an Cholera; vom Vater kennt er nur den Namen, Ismail. Er brachte ihn zu entfernten Verwandten und verschwand, der streitlustige Taugenichts. Als die Verwandten ihn loswerden wollen, muss er die Schule abbrechen und wird ausgerechnet bei Karims Mutter und deren zweiten Mann zum Boi, zum Diener. Dabei verspricht auch sein Name etwas anderes – gewinnt der Prophet Mohammed doch bei der Schlacht von Badr im Jahr 624 gegen eine Übermacht und ebnet sich den Weg nach Mekka.

In diesem Haus in Daressalam begegnen sich Badar und Karim, der längst erfolgreich an der Universität studiert. Und bleiben einander verbunden, auch als Karim längst wieder auf Sansibar lebt und Fauzia getroffen hat.

Der Literaturnobelpreis für Gurnah überraschte 2021 viele: Er gehörte nicht zum Kreis jener, über die alljährlich im Oktober spekuliert wird. Mehrere seiner Romane waren bis dato nicht mal ins Deutsche übersetzt. Die Jury begründete die Vergabe mit Gurnahs “kompromissloser und mitfühlender” Darstellung “der Folgen des Kolonialismus”.

In “Diebstahl” liegt diese Zeit nun schon einige Jahrzehnte zurück. Tansania ist im Umbruch. Es gibt Kühlschränke, Internet; und Touristen wie Nichtregierungsorganisationen beginnen, das Land, vor allem aber Sansibar, zu überfluten. Der Kolonialismus lebt auf andere Art weiter, entweder mit den Restaurants, in denen nur zahlungskräftige Touristen willkommen sind, oder der Frage an Fauzia, ob sie Dantes “Göttliche Komödie” oder Shakespeares “Hamlet” überhaupt verstehe.

Gurnah lässt all das in die Geschichte um die drei jungen Menschen einfließen. Er erzählt beiläufig. Viele kleine Wendungen klingen unbeabsichtigt und nebensächlich. Doch genau mit dieser Schreibtechnik gelingt ihm der Aufbau eines großen Spannungsbogens. Er schafft es, dass der Leser bei jeder Begegnung schluckt und vermutet: Das kann kein gutes Ende nehmen; auch wenn es gerade so perfekt wirkt. Irgendwann muss es zur Katastrophe kommen.

Gurnah enttäuscht abermals nicht. Ihm gelingt eine überraschende Auflösung dieser Dreierbeziehung. Noch überraschender ist allerdings, dass diese sogar einigermaßen versöhnlich und beruhigend ist.