Die Wetterfahne macht den Anfang

116 Jahre stand die Stabkirche Stiege versteckt in einem Wald. Jetzt hat ihr Umzug begonnen: Die Kapelle wird Stück für Stück abgetragen – und im Dorf originalgetreu wieder aufgebaut.

Und los geht’s (v.l.): Kulturstaatssekretär Gunnar Schellenberger, Monika Uecker vom Verein Stabkirche Stiege und Metalldrücker Thomas Müller montieren die Wetterfahne auf dem Kirchturm ab
Und los geht’s (v.l.): Kulturstaatssekretär Gunnar Schellenberger, Monika Uecker vom Verein Stabkirche Stiege und Metalldrücker Thomas Müller montieren die Wetterfahne auf dem Kirchturm abJens Schulze / epd

Stiege/Harz. Mit der für den Oberharz typischen Ruhe ist es im Dreiländereck von Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen vorbei. Im Wald nahe Stiege herrscht Trubel. Handwerker, Lieferwagen, Transportfahrzeuge reihen sich vor der skandinavischen Holzkirche ein, die seit 1905 auf dem Gelände der 1897 eröffneten und inzwischen völlig verfallenen Lungenheilanstalt „Albrechtshaus“ steht. Lange haben die Bürger diesen Tag herbeigesehnt. Insgesamt 1,1 Millionen Euro haben sie zusammenbekommen, um ihre Stabkirche vor dem Verfall zu retten und sie vom Wald in ihr Dorf zu versetzen. Ihr Einsatz hat sich gelohnt.

Den Anfang macht die Wetterfahne. Die Handwerker klettern auf das Gerüst, das an diesem windigen Tag ordentlich schwankt. An der Kirchturmspitze angenommen, lösen die Männer vorsichtig die Befestigung der in die Jahre gekommenen, fast zwei Meter großen Turmzier und seilen sie vorsichtig ab. Wie die Kirche selbst ist auch die Wetterfahne mit einem der charakteristischen norwegischen Drachenköpfe verziert. Unten angekommen nehmen die Mitglieder des Vereins „Stabkirche Stiege“ die Wetterfahne in Empfang.

Viele Zuschauer beim Abbau

Viele Schaulustige sind auf die Waldlichtung gekommen, um beim Kirchenabbau dabei zu sein, darunter auch Kamerateams und Politiker. Unter anderen schauen Gunnar Schellenberger, Staatssekretär für Kultur in Sachsen-Anhalt, und Ronald Fiebelkorn (CDU), Bürgermeister der Stadt Oberharz am Brocken, bei diesen besonderen Bauarbeiten zu.

 

Bereits seit sieben Jahren engagieren sich 145 Bürger in Stiege dafür, dass die schlichte Holzkirche erhalten wird. Sie soll, so der Plan, fachmännisch abgebaut, restauriert und sieben Kilometer weiter im Zentrum des Örtchens Stiege wieder aufgebaut werden. Eine spektakuläre Aktion – der Umzug ganzer Kirchen ist ein seltenes Ereignis in Deutschland.

Auf die Idee kam Helmut Hoppe, früherer Bürgermeister von Stiege, das heute ein Ortsteil der Stadt Oberharz am Brocken ist. Schnell fand der heute 84-Jährige Mitstreiter, obwohl in dieser Gegend wenige Menschen Mitglied in der Kirche sind. Aber das Ganze sei sowieso keine Glaubensfrage, finden sie hier in Stiege. „Die Kirche ist ein Baudenkmal, das erhalten werden muss“, sagt die Sprecherin Vereins „Stabkirche Stiege“, Regina Bierwisch.

Dann kam der Durchbruch

Lange haben die Vereinsmitglieder für die Finanzierung gekämpft. Auf Sommerfesten und Weihnachtsmärkten haben sie gesammelt, Lesungen, Konzerte, Ausstellungen zugunsten ihrer Drachenkirche organisiert. Der Durchbruch kam 2020: eine Förderungszusage des Bundes über 300.000 Euro vom Denkmalprogramm „National wertvolle Kulturdenkmäler“ des Bundes, dazu eine Förderung in etwa gleicher Höhe vom Land Sachsen-Anhalt sowie weitere Gelder von Unternehmen und Stiftungen, darunter die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz.

Die Stabkirche Stiege ist schon eingerüstet
Die Stabkirche Stiege ist schon eingerüstetJens Schulze / epd

Karsten Höpting ist von dem Engagement begeistert. Der 38-Jährige ist seit fast drei Jahren evangelischer Pfarrer für Stiege, Hasselfelde und Allrode. Die Gemeinden im Pfarrverband Harzer Land gehören zur Landeskirche Braunschweig. Dass die Menschen sich so für ihre Kirche einsetzen, freut ihn sehr. „Das verbindet die Menschen“, sagt er. In einer strukturschwachen Gegend, in der sich viele abgehängt fühlten, sei das viel wert.

Resignation durchbrochen

Durch das Projekt fänden die Menschen zusammen. Sie spürten, dass sie Widerstände überwinden könnten: „Das durchbricht Resignation.“ Und was sagt er dazu, dass viele der engagierten Bürger keine Kirchenmitglieder sind? Höpting zuckt mit den Schultern. „Hier findet Begegnung statt. Energie wird in etwas Konstruktives umgeleitet. Dafür steht Kirche doch.“

Energie können die Menschen hier in Stiege gebrauchen. Im August soll die restaurierte Holzkapelle mit ihren 150 Sitzplätzen unweit des Bahnhofs wieder aufgebaut werden, als Ort für Trauungen und als kulturelle Begegnungsstätte. Bis dahin ist noch viel zu tun.

Für die Bohlen fehlt eine Lösung – noch

Am 23. März wird die Kirchenspitze mit der Glocke von einem Kran abgehoben. Die kürzeren der rund 600 Holzbohlen werden nummeriert und nach und nach abgefahren. Für die langen Bohlen muss noch eine Lösung gefunden werden. Ursprünglich sollten diese von der Harzer Schmalspurbahn transportiert werden. „Doch nun wissen wir nicht, ob es geeignete Waggons gibt“, sagt Vereinsmitglied Vivien Pförtner.

Besorgt klingt die 32-Jährige deshalb nicht. Kein Wunder. Wenn sie eines gelernt haben hier in Stiege, dann ist es: geduldig und zuversichtlich zu sein, Lösungen zu finden und Widerständen zu trotzen. (epd)