Die Tiefe des Meeres

Über göttliche Gnade schreibt Claudia Ulrich. Sie ist Diakonin in Melle (Niedersachsen).

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Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ aus Micha 7, 19

Sie steht an der Reling, Wind weht durch ihre Haare. Endlich Urlaub. Bedächtig beugt sie sich über das weiße Geländer und schaut hinab auf das Meer. Dunkel ist es, undurchschaubar, wahrscheinlich sehr tief. Unwillkürlich hält sie ihre Brille fest. Was in die Tiefen des Meeres fällt, ist für immer verschwunden – einfach weg. Wenn das doch auch sonst so wäre, denkt sie. Wenn manche Ereignisse doch auch so spurlos verschwinden würden – in den Tiefen des Meeres. Weg wären, für immer.

Sofort fällt ihr das schlimme Zerwürfnis mit ihrer Schwester ein. Jahre ist es her. Aber immer noch kriecht es finster in ihr hoch und liegt ihr schwer im Magen und auf der Seele.

Sie weiß, dass es falsch war, was sie getan hatte, und dass es ihre Schuld war, damals. So viele Vorwürfe und Vorhaltungen hatte sie ihrer Schwester an den Kopf geknallt – mit voller Absicht. Ja, sie wollte sie mit ihren Worten verletzen. Die Wut in ihr war so groß. Aber nicht viel später hatte sie es bereut, hätte gern alles ungeschehen gemacht, die Uhr noch einmal zurückgedreht. Doch immer wieder fehlte ihr der Mut zu einer Entschuldigung. Angst und Stolz hatten stets überwogen, sich mit ihrer Schwester auszusöhnen. Nun war es zu spät. Ihre Schwester war nicht mehr da. Wie sollte sie bloß mit diesem Fehler, dieser Schuld leben?

„Gott liebt es, gnädig zu sein“, schreibt der Prophet Micha. „Er wirft alle unsere Sünden ins tiefste Meer.“ Gott ist nicht nachtragend, und darum darf ich auch gnädig mit mir selbst sein. Was mir bei und mit Menschen unmöglich erscheint, macht Gott möglich. Mein Versagen, meine Schuld, meine Fehler, alles, was mich bedrückt, kann ich ihm anvertrauen, und er entsorgt es für mich „in den Tiefen des Meeres“. Das gilt es zu glauben. Schaffe ich das? Glaube ich an Gottes Erbarmen? Vielleicht brauche ich auch dazu seine Hilfe, damit ich ihm vertrauen kann.

Wie gut ist es, wenn ich Gott mit ins Boot nehme. Dann werden meine Lasten über Bord geworfen, und Neuanfänge sind möglich.

Unsere Autorin
Claudia Ulrich ist Diakonin in der ­Kirchengemeinde St. Martini in Melle (Niedersachsen).

Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.