Die schönsten literarischen Orte

Als hätten sie den Lockdown geahnt: Literaturreferentin Antje Flemming und Literaturhaussprecherin Carolin Löher haben 53 Autoren gebeten, Literatur-Orte vorzustellen, an denen man einfach so vorbeischauen kann.

Die denkmalgeschützte Schilleroper auf St. Pauli – ein trauriger Ort mit großer Vergangenheit
Die denkmalgeschützte Schilleroper auf St. Pauli – ein trauriger Ort mit großer VergangenheitFrank Keil

Hamburg. Verloren liegt sie da: die ehemalige Schilleroper auf St. Pauli. Sie war Zirkus, Theater, Oper. Sie beherbergte ein Kriegsgefangenenlager, eine Notunterkunft und zuletzt in den 1990er-Jahren plötzlich eine Lese-Musik-Bar. Die wurde 2006 geschlossen, seitdem rottet das denkmalgeschützte (!) Gebäude vor sich hin. Von ihrem Schicksal erzählt der Verleger Daniel Beskos, sein Beitrag ist einer von 53 des kleinen Büchleins „Raus! Nur raus!“: Was den Ausspruch Heinrich Heines sprachlich modernisiert aufgreift, der kaum, dass er im Oktober 1843 in Hamburg eintraf, wieder wegwollte: „Fort! Nur fort!“, notierte er.

Herausgegeben von Hamburgs Literaturreferentin Antje Flemming und der Pressesprecherin des Hamburger Literaturhauses Carolin Löher ist es ein kompaktes Büchlein geworden, das auf je einer Doppelseite literarische Orte preist und lobt. Dichter werden empfohlen, diverse Buchhandlungen gewürdigt, wie die „Bücherstube Stolterfoht“ an der Rothenbaumchaussee, die man garantiert vom Vorbeifahren kennt – aber hat man da schon mal ein Buch gekauft?

Auch U3 ist dabei

Doch auch ein Gesamtkunstwerk wie die U-Bahn-Linie U3 wird vorgestellt. Schließlich schaut man während der Fahrt nicht nur auf den sich malerisch erstreckenden Hafen, sondern nach einer längeren Strecke durchs Unterirdische geht es auch entlang der Isestraße, wo man in Wohnungen blicken kann, in denen (noch?) prachtvolle Bücherwände Eindruck schinden – und schon ist man vorbeigefahren.

Karen Köhler nimmt uns mit in den „Kandie Shop“ auf St. Pauli und das aus gutem Grund: „Schreibende brauchen Orte, an denen sie sich zerstören können, und Orte, an denen sie sich zurückziehen und wieder aufrichten können.“ Katrin Seddig, jüngst mit dem Hubert-Fichte-Preis bedacht, empfiehlt als besinnenden Ort die Zentralbücherei am Hühnerposten. Und den Weg zu Hubert Fichte selbst zeichnet Folke Havekost auf, der zeigt, wo einst die „Palette“ bis in den frühen Morgen geöffnet war in der heute so stillen Neustadt.

Ein Graffito an der Hamburger Schilleroper, die der Schauplatz der ersten Geschichte des Büchleins „Raus! Nur raus!“ ist
Ein Graffito an der Hamburger Schilleroper, die der Schauplatz der ersten Geschichte des Büchleins „Raus! Nur raus!“ istFrank Keil

Schön auch, dass man nicht nur in gediegenen und sogenannten szenigen Vierteln geschaut hat, sondern auch Orte berücksichtigt, an denen man wohl erst einmal keinen literarischen Humus vermutet: Nils Mohl, dessen Romane so gekonnt zwischen Jugend- und Erwachsenen-Buch switchen, schreitet durch das Jenfelder Einkaufszentrum, das „künstliche Herz“ des Stadtteils.

Und für das anregende Verweilen am Fuße des Matthias-Claudius-Denkmals nahe dem unwirtlichen Wandsbeker Marktplatz setzt sich Alexander Posch ein, der sich hier jeden Mittwoch mit einem Freund trifft. Nefeli Kavouras wiederum gesteht ihre Zuneigung zum „Nachtasyl“ unter dem Dach des Thalia-Theaters. Was überhaupt ein Nebeneffekt ist: Man wird eingeladen zu schauen, wer in Hamburg schreiberisch so unterwegs ist, und sicherlich wird man die eine und andere Anregung finden (Leony Stahlmann!), wen man demnächst einmal lesen könnte.

Gang zum Friedhof

Klar vermisst man auch Orte und noch mehr Dichter, die keinen Platz gefunden haben. Aber es sollte ein handliches Buch werden, eines, das man in die Manteltasche stecken kann, ein Mitbringsel, eines auch, das man dem Besuch von außerhalb, womöglich aus dem Süden, für die erste Nacht aufs Kopfkissen legen kann. Das schließlich auch die Schattenseiten des literarischen Lebens von Hamburg nicht verschweigt.

Exemplarisch soll der Beitrag von Lutz Flörke erwähnt werden, Autor und Veranstalter literarischer Rundgänge wie Reisen. Er stellt einen Hamburger Dichter vor, der weitgehend vergessen wurde: Hans Erich Nossack, in Hamburg geboren, in Hamburg gestorben, der sich also auskannte. „Es ist unmöglich, zugleich Hamburger und geistiger Mensch zu sein“, lautete sein Credo. Und der sich gewünscht hat, dass die Hamburger seiner Beerdigung fernbleiben mögen. Weshalb Flörke ganz zu Recht zu einem Gang auf den Ohlsdorfer Friedhof einlädt.

Buch-Tipp
Antje Flemming/Carolin Löher: Raus! Nur raus!
Junius 2020, 120 Seiten, 8,- Euro.

Das Buch können Sie in der Evangelischen Bücherstube bestellen.
Die Evangelische Bücherstube gehört wie die Evangelische Zeitung zum Evangelischen Presseverband Norddeutschland.