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Die kürzesten Filme aller Zeiten

Als Kind verbrachte Gregory Crewdson viel Zeit damit, die Gespräche im Erdgeschoss seines Elternhauses in Brooklyn zu belauschen. Dort empfing der Vater, ein Psychoanalytiker, seine Patienten. „Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, dass ich das Ohr auf den Dielenboden presste, um zu hören, was bei den Sitzungen gesprochen wurde“, erinnert sich der 1962 geborene Künstler. Diese Erlebnisse hätten seine Arbeit geprägt. „Gregory Crewdson gewährt mit seinen Arbeiten einen Blick in das ländliche Amerika und in seine psychischen Abgründe“, erklärt Stephan Berg, Direktor des Kunstmuseum Bonn und Kurator der Retrospektive „Gregory Crewdson“, die ab Donnerstag zu sehen ist.

Die Retrospektive stellt bis zum 22. Februar mit rund 70 Arbeiten in Auszügen neun der insgesamt elf Fotoserien Crewdsons von den 1980er Jahren bis zur jüngsten Gegenwart vor. Gregory Crewdsons Bilder zeigen Szenen, die oft auf den ersten Blick vertraut wirken, jedoch beim genaueren Hinsehen rätselhaft und unheimlich sind: Menschen stehen auf Straßen oder mitten im Wald vor Autos mit geöffneten Türen, oder sie sitzen verloren in ihren Wohnungen. Feuerwehrleute kämpfen gegen unbeherrschbare Brände und Fenster gewähren Einblicke in rätselhafte Szenen. Viele der Bilder irritieren durch Lichtquellen, die unerklärlich sind, oder durch in der Realität unmögliche Spiegelbilder. Ihre besondere Intensität erhalten die Bilder auch dadurch, dass sowohl Vorder- als auch Hintergrund gleich scharf sind. Dadurch entstehe eine „Hyperrealität“, erklärt Berg.

Die Realität möchte Crewdson mit seinen Bildern nicht einfangen und keine bestimmten Botschaften transportieren. Seine Bilder würfen mehr Fragen auf, als sie beantworteten, betont er. „Die Betrachter bringen dann ihre eigene Erzählung zu jedem Bild mit.“ Die Figuren seiner Bilder starren oft verloren ins Leere oder aneinander vorbei. „Eine Metapher für ein Land, das sich selbst abhandengekommen ist“, interpretiert Kurator Berg. Crewdson selbst möchte sich nicht auf politische oder soziale Kritik am Trump-Amerika festlegen. „Natürlich sagen meine Bilder etwas über die Kultur aus, in der sie entstanden sind“, räumt er lediglich ein.

Crewdson arrangiert seine an die Bildsprache des Kinos angelehnten Aufnahmen sorgfältig. Beeinflusst sei er unter anderem durch Alfred Hitchcock oder David Lynch, sagt er. Er selbst bezeichnet seine aufwendig inszenierten Aufnahmen als „Single Frame Movies“ – Filme, die zu einem einzigen Moment verdichtet sind. Auch der Produktionsprozess dieser Aufnahmen ist dem von großen Hollywoodfilmen vergleichbar. Viele der Arbeiten entstehen im Studio mit aufwendig gebauten Kulissen. An der bekannten Serie „Beneath the Roses“ hätten insgesamt mehr als 100 Menschen für Casting, Kostüm- und Setdesign, Beleuchtung und Technik mitgewirkt, sagt Crewdson. Häufig würden Hunderte Fotos geschossen. Das eigentliche Bild entstehe in der Postproduktion, teilweise zusammengesetzt aus verschiedenen Aufnahmen.

Die Fotografien macht der Künstler seit Ende der 1990er Jahre nicht mehr selbst. Er sehe sich selbst inzwischen als Regisseur. „Als Regisseur der kürzesten Filme aller Zeiten“, präzisiert er schmunzelnd. Tatsächlich habe er auch einmal daran gedacht, einen Film zu drehen. Die Serie „Beneath the Roses“ (2003-2008) sei ursprünglich als ein solcher geplant gewesen, verrät Crewdson. „Aber das war keine gute Idee. Ich habe dann erkannt, dass ich doch ein Fotograf bin.“ Aus dem geplanten Film sei dann „die epischste“ seiner Produktionen geworden. Die Serie zeigt die Tristesse amerikanischer Klein- und Vorstädte: Menschen, die vor einer Industriekulisse ziellos an Bahngleisen entlanggehen, ein Auto ohne Fahrer auf einer Straßenkreuzung oder ein Mädchen auf einer Schaukel in einem Trailerpark. Über vielen Bildern liegt ein seltsam diffuses, nebeliges Licht.

Die Bonner Retrospektive, die in Zusammenarbeit mit der Albertina in Wien entstand, demonstriert, wie Crewdson sein Bildvokabular bereits in jungen Jahren fand und bis in die Gegenwart weiterentwickelte. Schon in den Arbeiten für seine Masterarbeit an der Yale School of Art hat das kinematografische Licht eine besondere Bedeutung. Menschen, die selbstentfremdet in ihrem Zuhause sitzen oder liegen, die Beziehung von Innen- und Außenraum und auch Feuer, die außer Kontrolle zu sein scheinen, sind bereits hier Thema. Später kommen noch die Natur als Motiv und der Kreis als immer wiederkehrende Form dazu.

Es sei verblüffend, wie man als Künstler sein ganzes Leben lang früh entdeckte Themen immer wieder bearbeite und neu erfinde, sagt Crewdson mit Blick auf seine Retrospektive. „Man kreist um diese frühen Ängste, Obsessionen und Sehnsüchte und die Geschichte endet nie.“