Den Begriff „Cancel Culture“ gab es im 18. Jahrhundert noch nicht, den Vorgang hingegen schon: Der kritische Schriftsteller Christian Friedrich Schubart (1739-1791) ist dafür ein extremes Beispiel. Durch eine Intrige zog ihn der württembergische Herzog Carl Eugen für zehn Jahre aus dem Verkehr. Mitten aus einer ruhigen und kreativen Schaffensphase in der Freien Reichsstadt Ulm heraus lockte er ihn auf herzogliches Gebiet nach Blaubeuren. Schubart wurde verhaftet und verschwand im berüchtigten Staatsgefängnis Hohenasperg.
Schubart war vor 250 Jahren im Januar 1775 nach Ulm gekommen. Allerdings nicht ganz freiwillig: Nach einigen Semestern Theologiestudium ohne Abschluss war er einige Jahre Hauslehrer in Aalen und Geislingen und Musikdirektor in Ludwigsburg, bevor er sich als Redakteur und Herausgeber des Wochenblatts „Deutsche Chronik“ in Augsburg niederließ. In seiner kritischen, aufklärerischen Zeitschrift legte sich Schubart mit dem katholischen Klerus, insbesondere den Jesuiten, an und wurde der Stadt verwiesen. Er zog daraufhin in das damals protestantische Ulm.
Er bezog eine Wohnung in unmittelbarer Nähe des Münsters. Nie sei er an dem „ehrwürdigen Denkmal teutscher Größe“ vorbeigegangen, „ohne vor Ehrfurcht aufzuschauen“, schrieb er in seiner „Chronik“. Deren Redaktion verlegte Schubart kurzerhand in das renommierte Gasthaus „Baumstark“, in dem er mit seinem Esprit und seinen geistreichen Äußerungen schnell zum Mittelpunkt der Schankstube wurde. Aber auch bei Wein und Bier war der Autor unermüdlich tätig und diktierte seine Artikel für die „Chronik“.
Sie erreichte inzwischen die damals bedeutende Auflage von 1.600 Exemplaren und wurde auch in europäischen Metropolen gelesen. Außerdem gab Schubart noch das „Ulmer Intelligenzblatt“ heraus. Er betätigte sich als Komponist und Klavierlehrer und trat regelmäßig bei Konzerten auf. Die sicheren Einnahmen ermöglichten es ihm, seine Familie, von der er jahrelang getrennt war, nach Ulm zu holen.
Diese ruhige und kreative Phase ist für Schubart jedoch nicht von Dauer. Denn in seiner „Chronik“, einem amüsant zu lesenden Sammelsurium von eigenen Gedichten und oft mit spitzer Feder verfassten Betrachtungen zu politischen Entwicklungen, Musik und Literatur, bezog Schubart deutliche Positionen: Er griff deutsche Fürsten an, die ihre Landeskinder als Soldaten den Kolonialmächten nach Übersee verkauften – zumeist eine Reise ohne Wiederkehr. Wie Schubart im März 1776 schrieb, habe auch der württembergische Herzog Carl Eugen „3.000 Mann an Engelland überlassen“. Diese kleine Notiz erzürnte offensichtlich den Herzog, der ein eifriger Leser der „Chronik“ war.
Außerdem verunglimpfte Schubart in einer privaten Äußerung Franziska von Hohenheim, die Mätresse und spätere Ehefrau Carl Eugens, als „Donna Schmergalina“, in Anlehnung an den schwäbischen Begriff für „Schmalz“. Diese despektierliche Bezeichnung wurde dem Herzog hinterbracht, der den kritischen Schriftsteller endgültig aus dem Verkehr ziehen wollte. Deshalb veranlasste der Regent im Januar 1777 den Amtmann des Klosters Blaubeuren, Schubart unter einem Vorwand nach Blaubeuren auf herzogliches Gebiet zu locken. Der Schriftsteller wurde verhaftet und ohne Urteil oder Gerichtsverfahren zehn Jahre auf dem Hohenasperg eingekerkert.
Diese Festnahme und Täuschung in Blaubeuren hat Schubart in seinem wohl berühmtesten Gedicht, „Die Forelle“, symbolisch beschrieben: wie der Täter das „Bächlein tückisch trübe“, um so die Forelle fangen zu können. Durch die Vertonung von Franz Schubert wurde das Gedicht später zu einem Klassik-Hit.
Nach zehn Jahren war die Rachsucht des Herzogs offensichtlich abgeklungen: Schubart wurde aus der Haft entlassen und bis zu seinem Tode 1791 sogar als Musik- und Theaterdirektor des Herzogshofs in Stuttgart eingesetzt.
Aber selbst mit seinem Tod war die Geschichte Schubarts noch nicht zu Ende: Nach seiner Beerdigung ging das Gerücht um, er sei lebendig begraben worden – denn wesentlich später wurde ein zerkratzter Sargdeckel auf dem Friedhof gefunden. Obwohl für dieses Gerücht nach Ansicht der Schubart-Biografen jede wissenschaftliche Grundlage fehlt, hatte es doch eine große Wirkung, vor allem in Literatenkreisen. So berichtet etwa der Dramatiker Heiner Müller, Bertolt Brecht habe sich deswegen für sich einen „Herzstich“ gewünscht, um einen Scheintod zu vermeiden. (0159/20.01.2025)