Diakonie will Hilfe bei Suizid besser vernetzen

Greifswald. Alarmierend viele Jugendliche nehmen sich das Leben. Ein Thementag in Greifswald mit Schülern und Erziehern führte die Situation deutlich vor Augen.

© epd-bild / Falk Orth

Für einen Moment wird es noch stiller im großen Saal des Greifswalder Rathauses. Nur dieses Lied von „Pur“, das Oberärztin Susanne Schmidt von der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Helios-Klinik in Stralsund gerade abgespielt hat, hallt nach in den Köpfen der Besucher. Es ist ein Abschiedslied für einen, der sich aus dem 13. Stock in den Tod stürzte – ein Lied voll von Trauer, Verzweiflung, auch Wut und der Frage: „Was hast du nur gedacht?“ „Ja“, sagt Susanne Schmidt leise, so fühlten sich Hinterbliebene von Suizidopfern. Und wie mag sich der gefühlt haben, der diesen letzten Ausweg wählte?
Bundesweit sterben nach Angaben des Diakonie-Vorstandes etwa 10 000 Menschen pro Jahr durch Suizid. 600 davon sind unter 25 Jahren. Das seien mehr als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen zusammen, so Maria Loheide vom Vorstand. Allein in Mecklenburg-Vorpommern gibt es jährlich rund 200 Suizide.
Wie man sie retten könnte – offenbar gibt es viele, die das bewegt: Rund 100 Erwachsene sind ins Rathaus der Hansestadt im Nordosten Deutschlands gekommen: Eltern, Lehrer, Sozialpädagogen aus umliegenden Städten, politische Vertreter. Die Ökumenische TelefonSeelsorge und der Kreis Vorpommern-Greifswald hatten zu diesem ersten Suizid-Präventionstag in der Stadt eingeladen – um aufzuklären und „sprachfähig“ zu machen.

Suizid – im Chat besprochen

125 000 Anrufende erreichen in einem Jahr die Telefonseelsorge. Etwa 46 der Telefonate am Tag drehen sich um Suizidabsichten oder um Lebenssituationen, die bereits von Selbsttötungen geprägt sind. „Erschreckend ist, dass im Chat Suizid noch häufiger Gesprächsgegenstand ist als am Telefon. Es sind vor allem Kinder, Jugendliche und junge Frauen, die körperliche, seelische oder sexuelle Gewalt erlitten haben und Hilfe suchen“, so Loheide. Zur besseren Suizidprävention sollte die Telefonseelsorge in den lokalen Netzwerken der Jugendhilfe noch besser verankert sein.
Mit einem Film für Jugendliche startete der Tag in Greifswald, rund 160 Schüler kamen. „Ich glaube, dass bei ihnen die Botschaft angekommen ist: Niemand muss allein bleiben, es gibt Hilfen“, sagt Psychiatrie-Koordinatorin Antje Peters vom Kreis. Die Hauptperson im Film etwa habe sich anderen Jugendlichen anvertraut, die auf der Internetplattform U25 Gespräche per E-Mail anbieten. Auch Susanne Schmidt sagt: „So ein Gesprächspartner ist besser als keiner.“ Für die Jugendlichen sei das Netz Teil ihrer Lebenskultur. Seiten wie www.neuhland (mit h) könne sie jungen Leuten als Anlaufstelle in Krisenzeiten empfehlen. „Die beraten sehr gut.“
In ihrer Stralsunder Klinik kommen manche Jugendliche erst an, wenn sie schon einen Suizidversuch hinter sich haben. Wie der 18-jährige Julius, der mit seinem Motorrad gezielt gegen eine Mauer raste. Einen selbst verfassten Text habe er im Krankenhaus aus der Tasche gezerrt, erzählt Susanne Schmidt. „Allein gelassen, auf mich selbst gestellt, ausgesetzt in einem großen Labyrinth“, so fängt er an. Von langen, dunklen Gängen schreibt Julius, von dem Gefühl, nie den falschen Abzweig nehmen zu dürfen, weil andere auf ihn herabguckten, von Aussichtslosigkeit. Und: „Am Ende meiner Kräfte sinke ich an einer Mauer nieder, schließe meine Augen und warte auf ein Wunder.“
Dieser Brief, sagt die Ärztin, gebe nicht nur einen Einblick in eine einsame Seele, er sei auch ein Hinweis darauf, welche gesellschaftliche Atmosphäre immer mehr Jugendliche unter Druck setze und einsam mache: das deutsche Leistungsprinzip, nach dem nur der viel gilt, der viel leistet, viel weiß, viel hat. „Wir brauchen einen gnädigeren Blick aufeinander“, sagt sie.
Und noch einen Gedanken gibt sie ihren Zuhörern am Schluss mit auf den Weg: Jedes Wort kann helfen. „Wenn wir Jugendliche in unserer Klinik fragen, was sie dazu gebracht hat, sich Hilfe zu holen, stellen wir fest: Sehr häufig war es nur ein Nachbar oder Lehrer, der gesagt hat: Ich sehe dich, ich mache mir Sorgen um dich, oder: Komm zu mir, wenn du Hilfe brauchst.“ Das Elternhaus spiele bei der kindlichen Entwicklung natürlich eine große Rolle. Aber im Zweifel könne auch jeder andere zum Strohhalm werden. Sorgen kann man teilen.