Der Takt des Lebens

Über eine alte Uhr schreibt Nele Schomakers. Sie ist Pastorin in Delmenhorst (Niedersachsen).

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Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Schenkt, dann wird Gott auch euch beschenken: Ein reichliches Maß wird euch in den Schoß geschüttet – fest gedrückt, geschüttelt und voll bis an den Rand. Denn derselbe Maßstab, den ihr an andere anlegt, wird auch für euch gelten.“ aus Lukas 6, 27-39

Zwölf Uhr. Die zwei kleinen Glocken ihrer Kirchengemeinde läuten. Drei Minuten lang. Jeden Mittag. Nicht fünf vor zwölf. Nein. Punkt zwölf Uhr. Es ist Zeit. Das findet auch ihr Magen. Ein leichtes Hungergefühl macht sich breit.

Die alte Großvateruhr im Esszimmer, die sie von ihren Eltern geerbt hat, schlägt gleichmäßig im Takt. Früher hing die Uhr bei ihrer Oma. Gebannt schaute sie als kleines Mädchen, wie Oma die Uhr aufzog. Und die Uhrzeit wieder richtig einstellte. Heute machte sie es wie ihre Oma. Da war wahrlich Fingerspitzengefühl gefragt, das Pendel wieder in den richtigen Takt zu bekommen.

Ihr Takt des Lebens: momentan aus den Fugen geraten. Eigentlich ging es ihr doch gut. Sie war zufrieden mit sich und ihrem Leben. Und ihr Beruf begeisterte sie, setzte Energien frei. Raum für Kreativität. Und so vieles mehr. Eigentlich. Aber: Was war noch richtig? Was falsch? Wohin sollte der Weg gehen? Wann der passende Zeitpunkt, einen anderen Weg einzuschlagen? Denn: So wie jetzt ist es keine Option mehr.

Unermüdlich geht der Sekundenzeiger der Uhr. Unüberhörbar. Auch die Sehnsucht, ihrem Herzen zu folgen. Un.Über.Spür.Bar. Die Sehnsucht, Gott zu folgen. Und dem, was er ihr ins Herz gibt. Geschenkt! Geschenk. Reichlich. Geschenkt. Das Maß ist voll. Voll bis an den Rand. So großzügig ist Er. Der seine Feinde liebt. Und vergibt. Und Gutes tut. Und auch noch die andere Wange hinhält. Der gibt. Und nicht zurückfordert. Der auch die anderen liebt. Der nichts zurück erwartet.

Und sie? Wo war sie in all dem? War sie schon – oder überhaupt – bereit dafür?

Ihr Magen knurrt nun laut und unaufhörlich. Sie hat Hunger. Nach seinem Wort. Nach seiner Zu-Mutung. Nach seiner Vergebung. Es ist fünf nach zwölf. Aber noch nicht zu spät. Zu gehen. Und den Maßstab zu holen. Sie steht auf. Sie geht. In die Küche. Und setzt Nudelwasser auf. Der Topf. Gefüllt bis an den Rand..

Unsere Autorin
Nele Schomakers ist Pastorin in Delmenhorst (Niedersachsen).

Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.