Der St.-Pauli-Pastor auf dem traurigen Kiez

Ob Clown, Prostituierte oder Hipster – vielen Menschen im Hamburger Vergnügungsviertel fehlt in der Corona-Zeit die Perspektive. Deshalb ist Seelsorge sehr gefragt, sagt Pastor Wilm, der jetzt immerhin wieder Präsenz-Gottesdienste feiern darf.

Pastor Sieghard Wilm vor der bekannten Kneipe "Silbersack" – die momentan geschlossen ist
Pastor Sieghard Wilm vor der bekannten Kneipe "Silbersack" – die momentan geschlossen istCarsten Kalaschnikow / epd

Hamburg. Auf der Hamburger Reeperbahn herrscht seit mehr als einem Jahr fast unheimliche Stille. Vereinzelt sind Lebensmittelgeschäfte oder Pommes-Buden geöffnet, aber Clubs, Bars und Rotlicht-Läden haben geschlossen. Wann sie wieder öffnen können, weiß niemand – geschweige denn, wann sie zum normalen Betrieb zurückkehren können. „St Pauli ist wie ein Korallenriff: über lange Zeit gewachsen“, sagt der Hamburger Kiez-Pastor Sieghard Wilm. „Wenn es einmal einen tiefen Schnitt gab, weiß man nicht, was danach genau bleibt.“ Die Stimmung unter den St. Paulianern schwanke zwischen Niedergeschlagenheit und Trotz.

Seelsorge sei momentan sehr gefragt, so Wilm. „Es kommen Menschen aus allen Berufen zu mir: von der Clownin über die Prostituierte bis zum Hipster.“ Was vielen fehlt, sei die Perspektive: „Wo ist Land in Sicht?“ Selbstständige lebten längst von der Hand in den Mund. Doch beobachtet der Pastor der Gemeinde am Hafenrand auch gegenseitige Unterstützung und Aufmunterung: „Der Graffiti-Künstler Ray de la Cruz hat das Logo ‚We miss you‘ entworfen und an eine Hauswand am Hans-Albers-Platz gesprüht. Als Aufkleber gedruckt, sollen es die Menschen offen auf Taschen, Autos und Kleidung tragen und so den St. Paulianern signalisieren: ‚Wir denken an Euch.'“

Herzblut investiert

Es gehe nicht nur ums Geld verdienen, sagte Wilm dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Viele Menschen haben hier Herzblut investiert, sie identifizieren sich mit ihrem Stadtteil.“ Daher sei aber auch das „Wir-Gefühl“ besonders groß. Die Menschen sprechen sich untereinander Mut zu. Allerdings wolle er St. Pauli auf keinen Fall romantisieren. „Nicht alles hier war schillernd und liebenswürdig, das ist klar“, sagt der 55-Jährige, der seit 2002 Pastor auf St. Pauli ist.

 

Beim Spaziergang über den Kiez unterhält er sich viel mit den Leuten. Etwa mit dem Unternehmer Axel Strehlitz, dem mehrere Clubs und eine Filmproduktion gehören. Strehlitz betreibt seit Dezember eines der ersten PCR-Testzentren, mitten auf der Reeperbahn, und hat dort seine Mitarbeiter aus den Läden angestellt. Eigentlich DJs, Tänzer, Travestiekünstler und Barpersonal – jetzt geben sie kleine Becher mit einem Schluck Kochsalzlösung aus und erklären, wie man damit richtig gurgelt, damit er im Labor auf Covid-19 untersucht werden kann. „Ich bin froh, meinen Leuten so weiterhin Jobs anbieten zu können – auch wenn sie jetzt ganz andere Sachen machen“, sagt Strehlitz.

Präsenz-Gottesdienste feierten Wilm und seine Kollegin Sandra Starfinger in den vergangenen Wochen nicht, Andachten gab es nur online. „Die Kirche war zu den Gottesdienst-Zeiten offen, und die Menschen konnten zum stillen Gebet kommen.“ Am 15. April hat der Kirchengemeinderat beschlossen, 30-minütige Gottesdienste in Präsenz zuzulassen. „In Hunderten von Kirchen haben in den vergangenen Monaten Gottesdienste stattgefunden, es gibt gute Erfahrungen mit Hygiene-Konzepten.“ Auch das Argument, dass unter den Gottesdienst-Besuchern immer mehr Geimpfte sind, habe bei der Entscheidung eine Rolle gespielt. (epd)