Der Kirche aufs Dach gestiegen

Falko Weise und Frank Miske haben einen ungewöhnlichen Beruf: Sie sind Industriekletterer, spezialisiert auf Kirchen. Mal reparieren sie Turmuhren, mal wechseln sie Ziegel aus. Angst haben sie nicht, Respekt aber schon.

Falko Weise und Frank Miske an ihrem Arbeitsplatz
Falko Weise und Frank Miske an ihrem ArbeitsplatzOlaf Dobler

Ahrenshagen. „Du kletterst doch – und ich habe einen Dachschaden. Das passt doch zusammen!“ Mit dieser Erkenntnis begann die Kirchendach-Kletterer-Karriere von Falko Weise. Ein befreundeter Pastor in Naumburg hatte ihn gefragt, ob er nicht mit seiner alpinen Ausrüstung einmal hoch auf den Kirchturm steigen könne, um einige Ziegel auszuwechseln.

Eine Lokalzeitung berichtete über diesen ersten Einsatz. Vorher waren die Mittelgebirge das Tummelgebiet des Sportkletterers. Er und sein guter Freund, inzwischen leider verstorben, hatten sich schon häufiger gefragt, ob sie beruflich auf dieser etwas „gehobenen Ebene“ zusammenarbeiten könnten. So entstand die Idee, ein Gewerbe anzumelden und einen Beruf daraus zu machen. Die Firma Alptechnische Dienstleistungen aus Ahrenshagen in Vorpommern war geboren.

Handwerk gefragt

„Industriekletterer“ ist die übergeordnete Berufsbezeichnung, aber die Einsatzgebiete und Spezialisierungen sind so vielfältig, dass es keine einheitliche Ausbildung gibt. Wohl aber verschiedene Wege zu dieser Tätigkeit.

Worauf es aber vor allem in diesem Job ankommt, sind zwei Dinge, sagt Falko Weise. Die Fähigkeiten und das Selbstvertrauen eines Sportkletterers auf der einen – und die handwerkliche Geschicklichkeit auf der anderen Seite, zusammen mit der Bereitschaft, sich schnell in neue Fachgebiete einzuarbeiten. „Wer nicht gern Handwerker ist, ist für diesen Beruf nicht geeignet“, sagt Weise.

Falko Weise-Schmidt und Frank Miske auf dem Kirchturm von Kagenow südlich von Greifswald
Falko Weise-Schmidt und Frank Miske auf dem Kirchturm von Kagenow südlich von GreifswaldOlaf Dobler

Gestern Maler, heute Klempner, morgen Uhrenmechaniker und übermorgen Dachdecker. Alle möglichen Facharbeiten sind zu erledigen, nur eben ohne festen Boden unter den Füßen. Vogel­abwehr, Regenrinne oder Blitzschutz anbringen – oft sind es einfache Arbeiten, aber nur der Höhenarbeiter kommt heran. „Sonst müsste extra ein Gerüst aufgebaut werden. Da ist es billiger, einen Kletterer hochzuschicken.“ Aber oft wird’s auch komplexer: etwa eine Turmbekrönung auf die Spitze setzen. Oder den neuen Minutenzeiger an die alte Turmuhr bauen wie neulich am Dom in Güstrow.

Beim Spezialisten abgeschaut

Falko Weise, selbst gelernter Keramiker, hat sich in diverse Fachgebiete eingearbeitet. Er guckte Spezialisten über die Schulter, holte sich Rat, probierte aus. „Wenn man sich anschaut, wie ein Schieferdach gemacht ist, weiß man, wie man es repariert.“

Er muss mit Glas umgehen können und mit Holz, mit Metall oder Schiefer, mit Steinen oder Textilien – und nicht zuletzt auch mit Kameratechnik. „Oft machen wir Fotos, um beispielsweise den Zustand eines Mauerwerkes zu dokumentieren.“ Gemeinsam mit Fachleuten wertet er diese Bilder dann aus und plant weiter.

Wunderbare Dachlandschaften

Zumeist arbeiten er und sein Kollege Frank Miske an Kirchen, oft aber auch an anderen hohen Gebäuden. „Es gibt so wunder­bare Dachlandschaften“, schwärmt er. Wie die auf dem Schweriner Schloss. Eines der größten Highlights im Kletter-Handwerker-Alltag: den goldenen Engel dort besuchen und seine Standfestigkeit prüfen.

Vermehrt gehören auch Windräder zu ihren Einsatzorten: Korrosionsschutz aufbringen, die sogenannte Flugsicherungsbefeuerung warten – die roten Lichter also, die abends so schön blinken. „An so ungewöhnlichen Orten zu arbeiten, genieße ich sehr.“ Den Wind um die Nase zu spüren, hoch über der Landschaft, da, wo sonst nur die Vögel fliegen, das ist schon etwas Besonderes.

Oder auch, wenn er die Turmspitze erreicht, in dem Wissen, seit 100 Jahren war hier kein Mensch. Wenn er Einritzungen findet von den Handwerkern vor ihm – Menschen, die gar nicht mehr leben… Oder wenn, sehr lebendig, eine Eule um ihn herumfliegt, so wie vor Kurzem in einem Kirchturm. In ihrer Verwirrung setzte sich das Tier für einen Moment auf seiner Schulter ab, bevor es nach draußen flog. „Ich habe ihre Krallen und das weiche Gefieder gespürt, ihren Geruch wahrgenommen. Ein toller Augenblick“, sagt er.

Aufs Bauchgefühl hören

Das Wort „Angst“ kommt im Vokabular des 54-Jährigen nicht vor. Respekt vor schwer einschätzbaren Trittflächen schon – auch ein „Bauchgefühl“ gäbe es, das mitunter sagt: „Da klettere ich jetzt lieber nicht lang.“ Doch das Vertrauen in seine Technik, die Kenntnis von der Sicherheit seines Materials und das Bewusstsein über seine Fertigkeiten lassen ihn ganz ohne großes Herzklopfen in die Höhe steigen und in die Tiefe blicken. „Ob ich in 140 Metern Höhe auf einer Windkraftanlage stehe oder in 50 Metern auf einem Kirchendach: Es ändert sich nichts an der Ausrüstung. Ich trage den gleichen Gurt – ich brauche da oben nur ungleich mehr Seil“, sagt er.

Routine sei natürlich dabei. Aber führt gerade die nicht häufig zu Unvorsichtigkeiten? „Das wäre in unserem Beruf tödlich“, sagt er. Bei der Kontrolle des Arbeitsmaterials legt er die gleiche Akribie an den Tag wie vor 30 Jahren. Das Seil, das täglich durch seine Hände gleitet und an dem praktisch sein Leben hängt, begutachtet er ständig und tauscht es bei der kleinsten Materialermüdung aus. Auf funktionierendes Material muss er sich verlassen. „Wie beim Autofahren“, sagt er. Was eigentlich oft gefährlicher sei. „Wer mit 130 über die Autobahn rast, sollte auch überzeugt sein, dass seine Bremsen funktionieren.“