Seit fast einem Vierteljahrhundert schrieb Franz-Josef Wagner beinahe täglich seine Kolumne “Post von Wagner” für die “Bild”-Zeitung. Jetzt ist er im Alter von 82 Jahren gestorben.
“Gegenüber gehen jetzt die Lichter aus. Es ist 0 Uhr 21. Niemand wird die Schlafenden wecken, keine Gestapo, keine Stasi. Ist das ein guter erster Satz? Deutsche schlafen sicher.” Als Franz Josef Wagner diesen Satz 2010 seinem Buch “Brief an Deutschland” voranstellte, kam da plötzlich ein ganz anderer zum Vorschein als der breitbeinige Boulevardjournalist, dieser “Gossen-Goethe”, der irgendwann sogar dem Axel-Springer-Verlag zu viel wurde.
Wagner zeichnete in seinem biografischen Essay eine unsichere, ja beinah zerbrechliche Existenz nach, von der Vertreibung seiner Familie aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg, der nicht eben auskömmlich gesicherten Existenz im Regensburg der frühen Nachkriegsjahre und dem nichtbestandenen Abitur an einer Klosterschule.
War das Raubein, dass der ehemalige Regensburger Domspatz später als Journalist werden sollte, also nur die Schale um einen viel weicheren Kern? Das zumindest legen auch manche der Kolumnen nah, die er als “Post von Wagner” seit fast 25 Jahren auf der zweiten Seite der “Bild”-Zeitung schrieb.
Dabei waren diese knappen täglichen Vermessungen der Gegenwart und – meistens – ihrer Prominenten – eigentlich nur ein Trostpreis. Und oft genug ein tiefer Einblick in Wagners eigene Gemütslage. Denn der Job als Postbote konnte natürlich niemals den des Chefredakteurs aufwiegen, der Wagner im eigenen Verlag aber nicht mehr sein durfte.
2000 musste er als Chef der Berliner “B.Z.” gehen, weil er die kleine Schwester der “Bild” allzu selbstherrlich-cholerisch und erratisch führte. Ständig überzogene Redaktions- und Druckschlüsse, und dann auch noch “Franzi von Speck”! Ob die despektierliche Schlagzeile über Deutschlands Schwimm-Hoffnung Franziska van Almsick wirklich der Grund für seinen Quaisi-Rauswurf war, sei dahingestellt. Dass die obersten Presseleute von Springer aber diskret bei der Konkurrenz anriefen, um die lieben Kollegen wissen zu lassen, dass die nächste “B.Z.”-Ausgabe die letzte ihres Chefredakteurs sein würde, hatte es bis dahin (und hat es seitdem) bei Springer nicht gegeben.
Schlagzeilen waren ohnehin Wagners Schicksal. “Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen – Er beschimpfte seine Mitarbeiter als doofe Ossis – Ganz Bernau ist glücklich, dass er tot ist” – diese Titelstory der “Super-Zeitung” vom Mai 1991 blieb auf ewig mit Wagner verbunden und ziert heute T-Shirts und Hoodies eines neuen Ost-Bewusstseins. Dabei war der 1943 im damaligen Olmütz geborenen Lehrersohn da gerade “fremd” gegangen und machte mit der “Super-Zeitung” Springer Konkurrenz.
Diese hatten nach der “Wende” in der DDR der Burda-Verlag und der internationale Medienunternehmer Rupert Murdoch als Gegenstück zur “Bild” konzipiert. Das Blatt, dass “DDR” stets in Anführungsstrichen schrieb, würde im Osten keine Chance haben, lautete die hoffnungsvolle Prognose bei Burda. Dort war Wagner schon 1988 nach rund einem Vierteljahrhundert als Chef- und Starreporter der “Bild” gelandet, weil er hier größere Chancen als bei Springer sah. Als Chefredakteur der “Bunten” kam Wagner, der nebenbei auch als Krimi-Autor Bestseller geschrieben und sich als Ghostwriter vermietet hatte, endgültig im Jetset an.
Und stürzte ab, langsam und auf Raten. Die “Super-Zeitung erwies sich als unhaltbares Millionengrab für Burda. Es folgte die Rückkehr zur “Bunten” und ein gefaktes Interview mit Hollywood-Star Tom Cruise – nicht von Wagner selbst geführt, aber von ihm als “Bunte”-Chefredakteur verantwortet. Neue Zeitschriftenprojekte erwiesen sich als wenig erfolgreich, dazu kam immer wieder massive Kritik an seinem Führungsstil. All das ließ ihn 1998 wieder bei Springer landen, diesmal als “B.Z.”-Chef.
“Es ist nun leider wieder wahr geworden. Die Karrieren von heute zeigen alle ein und dieselbe Kurve: rapider anfänglicher Aufstieg, dann die Horizontale, allmählicher Abstieg bis zu den Tiefen des Scheiterns”, hatte Wagner damals selbst geschrieben, aber natürlich nicht sich, sondern Franziska von Almsick gemeint.
Und der neue Job als “Postbote” bei “Bild” hätte auch ein kurzlebiger Abgesang seiner selbst sein können. Doch hier lief Wagner zu neuer (alter) Form auf, beschimpfte Kanzler und Königinnen. Nur vor dem Kaiser machte Wagner halt, schließlich hatte er schon als Ghostwriter für seinen Namensvetter Beckenbauer gearbeitet.
Andere bekamen gnadenlos ihr Fett weg. Günther Jauch nannte er “einen Dieter Bohlen, der sich benehmen kann”. Und über den später nach rechts abgedrifteten “Spiegel”-Kulturchef Matthias Matussek schrieb Wagner: “Er macht aus Goethe einen Witz und aus einem Witz Goethe. Er ist der Erzähler des digitalen Universums. Unser erster Lacher im Weltall.”
Mit dem digitalen Universum ist Franz-Josef Wagner, der mit der Zuschreibung “Gossen-Goethe” gut leben konnte, nicht mehr wirklich warm geworden. Er war der alte, weiße Mann und stand dazu. Konnte, wollte und musste austeilen – konnte aber auch einstecken. Seine “Post” kam dennoch beinahe täglich an.
“Auf dem Höhepunkt aufhören ist Gold. Gilt übrigens auch für Kolumnisten”, hat Wagner vor 25 Jahren in seinem Schmäh-Artikel auf Franzi van Almsick in einem Anflug von Selbsterkenntnis geschrieben. Jetzt ist der Brieffreund der Nation im Alter von 82 Jahren in Berlin gestorben.