Das urchristliche Manifest

Vom Traum einer solidarischen Menschheit schreibt Pastor Tilman Baier. Er ist Chefredakteur der Kirchenzeitung in Schwerin.

Der Predigttext des kommenden Sonntags lautet: „Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.“ aus der Apostelgeschichte 2, 41 bis 47
„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ So beginnt die kleine, aber wirkmächtige Schrift „Das kommunistische Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels. Rechenschaft wollten sie damit ablegen über eine Bewegung, die sich die Befreiung des Menschen von der Unterjochung durch den Menschen zum Ziel gesetzt hatte. Gemeinschaft statt Vereinzelung, Solidarität statt Eigennutz – das sollte das Leben aller bestimmen.
Es ist kein Zufall, dass manches davon an die Beschreibung der ersten christlichen Gemeinde erinnert, wie sie uns der Evangelist Lukas in seiner Apostelgeschichte überliefert hat. Angesteckt von der Kraft des Evangeliums, gaben die frisch Getauften ihrem Leben eine neue Ausrichtung: Sie verkauften ihr Eigentum und brachten den Erlös in die Gemeinschaft ein. Aus diesem gemeinschaftlichen Besitz wurde nicht nach Leistung oder Stellung zugeteilt, sondern nach der Bedürftigkeit.
Kein Wunder, dass diese ersten Christen nicht nur Wohlwollen beim Volk ernteten, sondern auch Furcht bei denen, die ihren hervorgehobenen Platz in der Weltordnung gefährdet sahen. Das Gespenst des Christentums, so meinten sie, müsse aus dem Römischen Reich getilgt werden.
Später jedoch verlor die junge Kirche ihre Radikalität weithin und wurde staatstragend. Das Brotbrechen wurde zum Ritual von herausgehobenen Klerikern, aus Solidarität unter Gleichen wurde die herabbeugende Mildtätigkeit von Besitzenden. Auch der kommunistischen Bewegung erging es nicht viel anders.
Trotzdem ist der Traum von einer solidarischen Menschheit nicht totzukriegen. Das urchristliche Manifest lebte weiter in Klöstern, in Diakonissenverbänden und christlichen Kommunitäten. Und es fragt uns immer noch provokant an: Welche Konsequenzen hat es, wenn wir als Schwestern und Brüder gemeinsam in Christi Namen das Brot des Lebens im Abendmahl miteinander teilen?
Unser Autor
Pastor Tilman Baier
ist Chefredakteur der Kirchenzeitung in Schwerin.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.