Darum wenden die Menschen der Kirche den Rücken zu

Die Kirchen in Deutschland verlieren stark an Mitgliedern. Schon bald werden ihnen weniger als 50 Prozent der Bürger angehören. Warum das so ist und welche Rolle der Missbrauchsskandal dabei spielt, erläutert der Hamburger Historiker Thomas Großbölting im Interview.

Seltenes Bild: Ein junges Paar in einer Kirche
Seltenes Bild: Ein junges Paar in einer KircheiKlick / Pixabay

Herr Professor Großbölting, laut einer Allensbach-Studie für die FAZ ist schon bald der Punkt erreicht, dass weniger als 50 Prozent der Bundesbürger den beiden großen Kirchen angehören. Warum verläuft die Entwicklung so schnell?
Großbölting: In der Tat beschleunigt sich die Entwicklung derzeit stark. Bislang hatten Studien prognostiziert, dass diese Schwelle erst 2030 oder 2035 erreicht sein könnte. Jetzt könnte dieser Punkt schon in diesem oder im nächsten Jahr anstehen. Eigentlich geht die Geschichtswissenschaft davon aus, dass sich Mentalitäten und Weltanschauungen nur sehr langsam ändern. Mit Blick auf das religiöse Feld in der Bundesrepublik scheint diese Regel außer Kraft gesetzt.
In drei bis vier Generationen beobachten wir eine tiefgreifende Entkirchlichung: Im Westdeutschland der 1950er Jahre waren noch über 95 Prozent der Bevölkerung Mitglied einer der beiden christlichen Großkirchen.

Sind die Skandale – von der Limburger Badewanne bis zum sexuellen Missbrauch – die Ursache?
Der Verlust von Mitgliedern und der Rückgang von Glaubensüberzeugungen, der sich etwa durch Gottesdienstbesuch oder Teilnahme an den Sakramenten darstellt, ist ein Prozess, der schon in den 50er-Jahren begann. Die Skandale sorgen für zusätzliche Ausschläge in einem kontinuierlichen Trend.

Ist diese Entwicklung angesichts der Säkularisierung zwangsläufig?
Nein, das ist eine europäische und ganz besonders eine deutsche Besonderheit. In vielen Teilen der Welt sind Religionen und religiöse Praktiken, die sich auf einen Gott oder eine jenseitige Kraft beziehen, weiterhin attraktiv.

Und warum tickt Deutschland da so anders?
Es gibt viele Faktoren: Neben allgemeinen Gründen für die Säkularisierung sticht in Deutschland das Erbe der zwei Diktaturen des 20. Jahrhunderts hervor. Der Nationalsozialismus war ja nicht nur kirchenfeindlich, sondern durchaus eine pseudoreligiöse Bewegung mit Heils- und Erlösungsversprechungen. Kein Wunder, dass viele Deutsche anschließend die Nase voll davon hatten. Der Soziologe Helmut Schelsky hat nicht umsonst von einer „skeptischen Generation“ gesprochen. In der DDR war dann das SED-Regime erfolgreich damit, Kirchen und Religion zurückzudrängen.

Prof. Thomas Großbölting, Historiker aus Hamburg
Prof. Thomas Großbölting, Historiker aus HamburgPrivat

 Aber zumindest in Westdeutschland gab es doch in der Nachkriegszeit ein religiöses Erwachen. Die katholische Kirche galt als „Siegerin in Trümmern“, weil sie scheinbar nicht durch Kollaboration mit den Nazis diskreditiert war.
Sicher, die Kirchen waren 1945 voll. Große Teile der Eliten verfolgten das Ziel einer umfassenden Rechristianisierung der Gesellschaft. Den politischen und moralischen Zusammenbruch vor 1945 suchte man durch die Rückbesinnung auf das Christentum zu überwinden….

Aber…
Aus dem kurzen religiösen Frühling ist kein religiöser Sommer geworden. Ein genauer Blick zeigt, dass die Kirchen schon die Austritte der NS-Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ausgleichen konnten. Sehr schnell stiegen die Austritte wieder an, auch Kirchenbesuch, Ordenseintritte und Beteiligung an den Sakramenten gingen zurück. Der Anteil der „Mischehen“, die die Kirchenleitungen zeitgenössisch verhindern wollten, stieg stark an. Umfragen zeigen, dass etwa die Sexualnormen der Kirche immer weniger akzeptiert wurden. Die zunehmenden Austritte seit dem Ende der 1960er Jahre sind vor allem mit der inneren Abkehr von Glaubensinhalten zuvor erklärbar.

Politisch und gesellschaftlich war der Einfluss der Kirchen aber groß, insbesondere in der Adenauer-Zeit.
Was sich aber aus heutiger Sicht als großes Problem erweist. Aus meiner Sicht hat dieses enge Staat-Kirche-Verhältnis auch dafür gesorgt, dass sich in Deutschland weder die christliche religiöse Praxis noch anderen Formen von Religiosität lebendig entwickelt haben. Religion war durch die beiden Kirchen stark normiert; sie wurden vom Staat privilegiert, etwa durch Kirchensteuern, den Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Neben diesen beiden Monopolisten konnte wenig Anderes entstehen. Die enge Bindung des Staates an die christlichen Kirchen hat auch eine faire Religionspolitik verhindert.

Mittlerweile wird dieses enge Staat-Kirchen-Verhältnis immer brüchiger…
Es knirscht gewaltig. Der Anteil der Konfessionslosen schnellt besonders seit der Wiedervereinigung in die Höhe. Menschen muslimischen Glaubens beispielsweise verdienen genau so viel staatliche Anerkennung und Unterstützung wie die christlichen Kirchen. Bei der Wiedervereinigung ist das in Westdeutschland gewachsene Modell der engen Kooperation von Staat und Kirche noch fast komplett auf den Osten übertragen worden. Doch inzwischen wird vieles in Frage gestellt: das eigene kirchliche Arbeitsrecht, die Sitze in den Rundfunkräten oder die historisch bedingten Staatsleistungen.

Hat der Missbrauchsskandal in diesem Zusammenhang Folgen?
Davon gehe ich aus. Aus Sicht vieler Bürger haben die Bischöfe bei der Aufklärung von Missbrauch versagt; niemand will Verantwortung übernehmen und zurücktreten. Auch Nichtchristen haben den christlichen Religionsgemeinschaften bislang hohes moralisches Kapital zugestanden. Das wird jetzt zunehmend durch Distanz, gelegentlich sogar von grundsätzlichem Misstrauen ersetzt. Auch Politiker, die von der Nähe zu den Kirchen lange profitiert haben, gehen auf Distanz.

Wie sieht Ihre Prognose aus?
Es gibt – neben der abnehmenden Minderheit, die an zentralen Glaubensinhalten festhält – immer noch viele Deutsche, die die Kirchen als eine Heimat empfinden oder die aus Gewohnheit nicht austreten. Umfragen zeigen beispielsweise, dass die Sorge, nicht christlich beerdigt werden zu können, manche Menschen in der Kirche hält. Aber all das erodiert. Es gibt, wie auch die Allensbach-Studie zeigt, eine Ablösung von der Kirche und ihren religiösen Gehalten in Stufen: Zuerst kommt eine Abwendung von der kirchlichen Lehre und Praxis, dann der formale Austritt. Der dritte Schritt ist dann die Abkehr von der christlichen Kulturtradition. Das alles vollzieht sich oft im Übergang zwischen den Generationen: Den in den 60er Jahren geborenen Eltern gelingt es nicht mehr, ihren Kindern eine Nähe zu Kirche und Religion zu vermitteln. Spätestens die Kinder treten dann aus. (KNA)