Busfahrt ins Ungewisse

In Nepal wurden nach dem Erdbeben 2015 viele Kinder unter falschem Vorwand verschleppt. Nisha Phunyal hat Hunderte vor diesem Schicksal bewahrt – die mutige Sozialarbeiterin scheut keine Konfrontation.

Sozialarbeiterin Nisha arbeitet in einem Kontrollposten in Kinetar, Nepal, den die Hilfsorganisation Plan International eingerichtet hat.
Sozialarbeiterin Nisha arbeitet in einem Kontrollposten in Kinetar, Nepal, den die Hilfsorganisation Plan International eingerichtet hat.Julia Fischer

von Julia Fischer
Dolakha. Sie kamen im gepflegten Anzug und mit großen Versprechungen in die nepalesischen Dörfer – und nahmen jede Woche Dutzende Kinder mit. Nach den schweren Erdbeben in dem Himalaya-Staat vor zwei Jahren hatten es Kinderhändler besonders leicht: Sie versprachen den Familien eine gute Ausbildung oder fair bezahlte Arbeit für ihre Kinder in der Hauptstadt Kathmandu. "In Wirklichkeit erwartete die Kinder oft Ausbeutung, harte körperliche Arbeit oder sogar die Vermittlung an ein indisches Bordell", sagt Sven Coppens von der Kinderhilfsorganisation "Plan International".

Viele Kinder in Nepal sind unterernährt

Viele Familien in Nepal sind so arm, dass die Eltern ihre Kinder kaum ernähren können. Die Hälfte aller Mädchen und Jungen unter fünf Jahren ist nach Angaben der Kinderhilfsorganisation "terre des hommes" unterernährt. Oft schicken die Eltern ihre Kinder zum Arbeiten, um die Familie zu unterstützen. Nach den Erdbeben am 25. April und 12. Mai 2015, bei dem Tausende Menschen getötet und verletzt wurden, war die Situation für sie noch verzweifelter – das ließ den Kinderhandel gedeihen.

Kontrollposten gegen die Verschleppung

Um gegen das Verschleppen vorzugehen, errichtete "Plan 2015" in Zusammenarbeit mit der Polizei fünf Kontrollposten an Hauptverkehrsstraßen. Dort wurden Fahrzeuge mit Kindern gezielt gestoppt. Die Sozialarbeiterin Nisha Phunyal arbeitete zwei Jahre lang an dem Posten in Kirnetar. Im Sommer 2015 hätten sie und ihre zwei Kollegen mehr als 40 Kinder pro Woche in den Fahrzeugen auf dem Weg in eine vermeintlich bessere Zukunft gezählt. Anfang 2017 seien es nur noch vier bis fünf im Monat gewesen, sagt die 29-Jährige.
Seit Beginn des Projekts half Phunyal insgesamt 281 Kindern, aus den Händen von Menschenhändlern zu entkommen. An allen fünf Posten zusammen waren es mehr als 500, die meisten waren gerade einmal zwischen elf und 15 Jahre alt. Mehr als 130.000 Busse und Autos wurden kontrolliert.

In den Distrikten, in denen die Kontrollposten eingeführt wurden, waren nach den schweren Beben fast alle Schulen zerstört. Die Kinder wussten tagsüber nicht wohin, die Eltern mussten sich um Lebensunterhalt und Wiederaufbau des eigenen Heims kümmern. Häufig gaben die Eltern ihre Kinder den Menschenhändlern blauäugig mit. Bei dem Projekt ging es deshalb vor allem darum, ein Bewusstsein zu schaffen und die Eltern für das Wohl ihrer Kinder zu sensibilisieren, sagt Phunyal. Und auch Kindern wurde im Rahmen des Projekts beigebracht, welche Rechte sie haben.  

"Das ist eine Familienangelegenheit!"

Beim Kontrollieren der Fahrzeuge sei es nicht immer einfach zu erkennen gewesen, ob die Begleitung wirklich Gutes im Sinn hat, erinnert sich Phunyal. Oft hieß es: "Das ist eine Familienangelegenheit!" – denn häufig sind die eigenen Verwandten in das Verschleppen involviert. Das Training von "Plan International" half auch, mit den Angehörigen einfühlsam umzugehen.
Auch die Kinderrechtsorganisation "Save the Children" schuf Schutzräume für Kinder. Mit Straßentheatern und Malwettbewerben, Vorträgen und Wandzeitungen wurde die Bevölkerung aufgeklärt. Bei ihrem Engagement spiele sicher auch ihr Glaube eine Rolle, sagt die Christin Phunyal. Jeden Samstag besucht sie den dreistündigen Gottesdienst ihrer Gemeinde. Die meisten Nepalesen sind Hindus oder Buddhisten. Zum Christentum bekennen sich etwa 1,4 Prozent der 28 Millionen Einwohner.

Vorbild für viele Mädchen

Phunyal selbst heiratete im Alter von 14 Jahren. Ein Jahr später bekam sie ihre Tochter, ein Sohn folgte, als Phunyal 18 Jahre alt war. Sie habe viel kämpfen müssen, sagt sie heute. Dennoch sei sie ein Vorbild für viele Mädchen in ihrem Dorf gewesen, weil sie nach der Hochzeit weiter zur Schule ging. Das ist in Nepal nicht selbstverständlich.
Die Berufsaussichten für junge Menschen sind heute so schlecht, dass sie in Scharen das Land verlassen. Täglich machen sich nach Angaben der nepalesischen Regierung 1.500 junge Nepalesen auf, um Arbeit in den Golfstaaten oder in Japan zu suchen. Das Plan-Programm endete offiziell im Frühjahr 2017. Doch Phunyal unterstützt die Familien ihrer Region weiter: "Es erfüllt mich, diese Kinder zu retten", sagt sie. (epd)