Bleibende Erinnerung

In den Jahren 2004, 2007 und 2019 begleitete Militärpfarrer Gerson Seiß die deutschen Einsatzkontingente in Afghanistan seelsorgerlich. Es sollten prägende, unvergessliche Zeiten für ihn werden.

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PIZPastor Gerson Seiß bei der Gedenkfeier für die Opfer des Selbstmordattentats 2007

Heide. Zu Beginn der internationalen militärischen Präsenz in Afghanistan standen Patrouillen und Wiederaufbauarbeit im Vordergrund. Militärische Präsenz im Raum hatte das Ziel, Aufständische durch bloße Anwesenheit zurückzudrängen, so dass die öffentlichen Institutionen Afghanistans ihre Arbeit wahrnehmen konnten. Es wurden auf politischer Ebene und bis hinein in mittelalterlich anmutende Dörfer Kontakte zur Bevölkerung gesucht und gepflegt mit dem Ziel, möglichst umfänglich Afghanen für Werte wie Demokratie, Rechtssicherheit, Minderheitenschutz und die Segnungen eines bescheidenen Wohlstands zu gewinnen. Der Bau von Krankenhäusern und Brunnen, Straßen und Schulen flankierte dieses Bemühen. Diese Einblicke und Eindrücke im fremden Land begeistern mich bis heute! Überwiegend herrschte im Kontingent der Eindruck vor, etwas Gutes zu tun.

Diese anfänglich positive Entwicklung fortzuschreiben gestaltete sich jedoch in den Folgejahren zunehmend schwieriger. Denn die Taliban begannen, sich zu reorganisieren. Der Busanschlag vom 7. Juni 2003 mit fürchterlichsten Folgen markiert vielleicht einen ersten Wendepunkt, dem ein nicht abreißender Fluss weiterer Attacken und ständiger Bedrohung folgten.

Tödliches Attentat

Am 19. Mai 2007 starben infolge eines Selbstmordattentats auf einem belebten Marktplatz in Kundus drei Angehörige der dortigen Wehrverwaltung. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile auch nach Kabul und löste im Camp unter den Soldatinnen und Soldaten Betroffenheit aus, Trauer und mitunter auch eine – freilich nach innen gekehrte – Wut. Das Deutsche Einsatzkontingent Kabul versammelte sich zum Gedenken. Fahne auf Halbmast, der Kommandeur sprach und übergab dann das Wort an mich. Es war für mich der vielleicht schwerste Moment in den Einsätzen. Drei Männer waren aus dem Leben gerissen worden, Familienväter wie ich und viele andere im Kontingent auch.

Über allem, was in diesem Moment zu sagen war, stand unausgesprochen die Frage im Raum: Wofür sind diese Männer gestorben? Trägt der Tod dieser drei etwas zur Verteidigung Deutschlands am Hindukusch bei oder zur Verbesserung des Lebens in Afghanistan? Die Sinnfrage blieb über das Antreten hinaus präsent in den Köpfen und Herzen und in den nachfolgenden seelsorgerlichen Gesprächen.

Komplexe Frage

2014 endete das ISAF-Mandat, nachdem die internationale Militärpräsenz noch einmal deutlich verstärkt worden war. Damit verbunden war die Hoffnung, dass die afghanischen Sicherheitskräfte künftig selbst in der Lage sind, die Sicherheit im Land aus eigener Kraft zu gewährleisten. Ein neues Mandat flankierte dies ab 2015: „Resolute Support“ – eine reine Ausbildungsmission mit deutlich weniger Personal.

Spätestens zum 11. September dieses Jahres will die Nato den Einsatz beendet haben. Ziel erreicht? – Eine komplexe Frage, für die es wohl kaum die eine Antwort gibt.

Es bleiben persönliche Erinnerungen an ein Land von karger Schönheit und mit oftmals fröhlichen Kindern, die nach unseren Maßstäben doch kaum „etwas zu lachen“ hatten. Erinnerung an viele hochmotivierte, hilfsbereite Soldatinnen und Soldaten mit ausgeprägten Persönlichkeiten. Erinnerung an dienstlich prägnante Erfahrungen mit gut besuchten Gottesdiensten, manch wertvollem seelsorgerlichem Kontakt, bewegenden Gedenkfeiern am Ehrenhain und gelebter Kameradschaft. Und nicht zuletzt Erinnerung an die – zuletzt auch zunehmend offen diskutierte – Frage nach der Sinnhaftigkeit des Einsatzes.

Unser Autor
Gerson Seiß ist Pfarrer im Militärpfarramt Heide.