Am Eingang plätschert ein Springbrunnen, umrahmt von bunten Blumen. Gegenüber der meterhohe Zaun, mit Stacheldraht nach außen. Bewusst habe man die Pforte am Notaufnahmelager weitgehend in ihrem ursprünglichen Zustand belassen, sagt Florian Greiner. Der Historiker ist der Leiter des neuen Lern- und Erinnerungsortes Notaufnahmelager Gießen. Stacheldraht und Springbrunnen – sie taugen als Symbole für den Umgang der Deutschen mit Flucht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schwanken sie zwischen Abwehr und Willkommenskultur.
Drinnen im Museum steuert Greiner eine Wand mit Fotos, Zitaten und kurzen Texten an. „Bitte, kommt nicht ohne dringende Not hierher …“, sagte Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek 1950 im Deutschen Bundestag: Der CDU-Mann meinte die DDR-Übersiedler, die in großer Zahl in den Westen flüchteten.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich Gießen zu einem zentralen Anlaufpunkt für Flüchtlinge aus dem Osten. Zunächst kamen die Heimatvertriebenen aus den Ostgebieten, dann die Menschen aus der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Die Stadt brachte die Flüchtlinge anfangs in provisorischen Unterkünften unter, baute aber Ende der 1940er Jahre ein Barackenlager nah am Bahnhof. 1950 entstand in Gießen ein „Bundes-Notaufnahmelager“. Seit Juni 2025 beherbergt das ehemalige Lager ein Museum.
Der neue Lernort ist ein moderner, multimedialer Mix aus Zeitzeugen-Videos, Erklärfilmen mit dem bekannten Internetjournalisten „MrWissen2Go“, Grafiken, Scans, Exponaten, Zeitungsausschnitten, Fotos, Modellen. Greiner deutet aus dem Fenster heraus auf das fünfstöckige Gebäude schräg gegenüber. Westliche Geheimdienste saßen dort, um im Lager kommunistische Agenten und Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit zu enttarnen. Günter Guillaume, Spitzel im Umfeld von Bundeskanzler Willy Brandt, war ebenfalls in Gießen, blieb aber unentdeckt. „Auch die Stasi war vertreten“, bemerkt Greiner. Ein Ehepaar beobachtete im Auftrag der Staatssicherheit das Lager; ihre Tochter schildert das in einem Video in der Ausstellung.
Nach Gießen kamen auch politische Häftlinge der DDR. Ab 1963 kaufte sie die Bundesrepublik frei, insgesamt 33.000 Menschen. Oft war ihr Gesundheitszustand sehr schlecht. „Sie mussten erst aufgepäppelt werden.“ Eine Krankenstation mit drei Ärzten und mehreren Krankenschwestern stand bereit.
Ein Modell simuliert die Grenzanlage in ihrer höchsten Ausbaustufe im Jahr 1984, nebenan eine Videoanimation: Im Laufe der Jahre zog die DDR die Grenze immer höher, machte sie immer unüberwindlicher. Über ein Tastmodell lässt sich erspüren, wie weit im Landesinnern bereits für die DDR-Bürger die Grenze begann. Eigentlich war das Modell für die sehbehinderten Besucher gedacht, aber jetzt tasten sich auch die sehenden Besucher an den Linien entlang.
Mauertote werden nicht gezeigt, das sei auch nicht nötig, sagt der Historiker. Exponate sprechen für sich: ein Stück Zaun mit Stacheldraht, eine Mine sowjetischer Bauart, an der Grenze verlegt, auslösbar durch einen Stolperdraht. Spektakuläre Fluchten werden beschrieben, etwa der Weg der Austauschstudentin Kerstin Beck 1984 von Kabul über Pakistan nach Gießen. In einem Zeitzeugen-Video spricht sie darüber.
Greiner geht zu einem bunten Trabi. Eine Künstlerin gestaltete das Auto, bevor es im Museum landete. Mit dem Trabi fuhr ein ostdeutscher Student für ein Praktikum ein Jahr lang zwischen Rostock und Gießen hin und her. Damals, in der Wendezeit um 1989, erlebte das Gießener Notaufnahmelager einen großen Boom: An manchen Tagen standen mehr als tausend DDR-Bürger vor der Pforte.
Am Trabi vorbei, ein paar Schritte nur, und Greiner steht vor einem Ausstellungsstück, das ihm sehr wichtig ist. Hinter einer Glasfront sitzt eine Puppe im rosa Strampelanzug. Sie ist eines der wenigen Dinge, die der Syrer Mohammad Sowaid auf der jahrelangen Flucht mit seiner Tochter mitnehmen konnte. Sie endete in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen in Gießen.
Kriege und Konflikte weltweit machen Gießen weiterhin zum Ziel von Flucht. Das Notaufnahmelager am Bahnhof schloss 2018, es war zu klein geworden. Die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge befindet sich seitdem in einer ehemaligen Kaserne der US-Army am Stadtrand.