Begegnungen in der Backstube

Gute Idee: Das Ehepaar Wenzel will aus einer Backstube in Grimmen eine sozialdiakonische Einrichtung machen. Ein schwieriges Unterfangen.

Dorothea und Heinz Wenzel vor der „Alten Bäckerei“
Dorothea und Heinz Wenzel vor der „Alten Bäckerei“Sybille Marx

Grimmen. Der Extra-Teller ist wichtig. Gerade haben Dorothea und Heinz Wenzel in der „Alten Bäckerei“ in Grimmen Blumenkohl und Kartoffeln gekocht, Zwiebeln gehackt und Semmelbrösel geröstet. Nun decken sie den Tisch für sich, für ihre Mitarbeiterin Dorle Gritzan und: für eine weitere Person, die spontan vorbei kommen könnte. „So machen wir das immer“, sagt Heinz Wenzel. Denn offen zu sein für Begegnungen, das ist Programm in der „Alten Bäckerei“. Und wohl auch im Leben ihrer Gründer.
Heinz Wenzel, gebürtiger Greifswalder, kam in den 80er Jahren als Pastor aus Lauchhammer in die vorpommersche Stadt Grimmen, „aus dem tiefsten Kohlendreck“, wie er sagt. Seine Frau Dorothea baute mit ihm als Diakonin eine offene Jugendarbeit in der Stadt auf, misstrauisch beäugt von der Stasi. Inzwischen sind die beiden Mitte 70, längst könnten sie das Arbeiten anderen überlassen. Stattdessen haben sie im September mit dem „Förderverein Christliche Frauen für Familienbildungsarbeit“ in Grimmen den alten Bäckerladen hinter den Bahnschienen gekauft, ein zweistöckiges Gebäudeensemble aus DDR-Zeiten. Gekachelte Backstube, zwei Nebenräume, eine Wohnung im ersten Stock, ein Hinterhof und etwas Nebengelass – „man hat hier so viele Möglichkeiten“, schwärmt Dorothea Wenzel. Ein sozialdiakonisches Zentrum wollen sie und ihr Mann aus den Räumen machen, ein Haus mit Begegnungsstätte, Mitmachwerkstatt, Beratungsbüro und mehr, offen für alle in Grimmen; auch die rund 140 Flüchtlinge, die inzwischen hier leben.

Haus ist jetzt renoviert

„In Grimmen braucht Kirche offene Formen“, meint Wenzel. Die Tradition volkskirchlichen Lebens sei längst abgebrochen, wer Menschen erreichen wolle, müsse niederschwellige Angebote machen. Mit Hilfe vieler Grimmer Handwerker haben sie darum drei Monate lang das Haus renovieren lassen, eine Tischtennisplatte und einen Kicker hineingestellt, gebrauchte Tische und Stühle für Bastelnachmittage mit Familien besorgt, eine neue Küche im Café einbauen lassen.
Und kaum steht an diesem Wintertag das Essen auf dem Tisch, kommt tatsächlich ein Spontangast vorbei: Gabriele Tobe-Mankus, eine 58-Jährige im lila Fließpulli, mit Pferdeschwanz und vielen Sommersprossen im Gesicht. „An manchen Tagen kann ich keine Gesellschaft ertragen“, erzählt sie trocken. „Aber heute geht’s“, und das tolle sei: „Hier habe ich nie das Gefühl, ungelegen zu kommen.“ Allein von einer kleinen Rente lebt die gelernte Schlosserin, von ihrem „Männli“ getrennt. Als Kind wurde sie getauft und konfirmiert, ihre Mutter arbeitete bei der Kirche, immer war da ein Bezug. „Ich mag nur die Leute nicht, die sich Christ nennen, aber bei denen man es am Tun nicht sieht.“

Die Angebote der neuen Einrichtung

Für Wenzels scheint Christsein zu bedeuten: offen zu sein für die Bedürfnisse anderer, anzupacken, wo es nötig ist, ohne Furcht vor Verlusten. Wie kurz nach der Wende zum Beispiel, als Dorothea Wenzel den christlichen Frauenverein in der Stadt mitgründete, um eine evangelische Kita aufzubauen. „Nach dem Ende der DDR gab es ja so viele Chancen, dem Evangelium wieder einen Stellenwert zu geben“, sagt die 74-Jährige. „Und mit den Kleinen fängt es doch an!“ Der Kirchengemeinderat habe das genauso gesehen, erzählt ihr Mann, damals noch Pastor in der Stadt. „Aber alle rissen nur die Hände hoch und sagten: Wir können keine Kita aufbauen, das kostet ja Geld!“ Darum habe der Verein die Sache in die Hand genommen. „Inzwischen ist die Investition refinanziert.“
Wie das mit der neuen Begegnungsstätte gelingen soll, ist noch völlig unklar. Das meiste, was die Wenzels zusammen mit Ehrenamtlichen oder Angestellen anbieten wollen oder schon anbieten – ein Trauercafé, Bastelnachmittage und soziale Beratung, Plattdeutschabende und Sportkurse… – soll nichts oder nur wenig kosten. Doch allein der Kauf und der Umbau des Hauses haben schon 300 000 Euro verschluckt, jeden Monat braucht der Verein als Träger der Alten Bäckerei nun 1700 Euro, um auch nur den Kredit zu bedienen. Eine dieser Monatsraten hat vor Kurzem der Pommersche Evangelische Kirchenkreis zugeschossen. Doch regelmäßige Beträge spült bisher nur die vermietete Wohnung im ersten Stock in die Kasse, dringend ist der Verein darum auf weitere Förderer angewiesen.
Die Massen an Besuchern zieht die „Alte Bäckerei“ noch nicht an. Doch „das braucht nur Anlaufzeit“, meint Dorle Gritzan, Wenzels erste Mitarbeiterin, eine fröhliche, selbstbewusste Frau mit heiserem Lachen. 20 Jahre lang war sie Trainerin beim Kreissportbund,  mit Kirche hatte sie seit ihrer Kindheit nichts mehr zu tun. Aber als sie hörte, dass Wenzels einen Job zu vergeben hätten an eine Person, die Angebote mache für ältere Menschen, meldete sie sich. „Und dann gab es zwei Dinge, die ich wissen wollte“, erzählt sie. „Erstens: Darf ich hier mit Ideen entwickeln, und zweitens: Muss ich Kirchenmitglied sein?“ Ideen ja, Mitgliedschaft nein, erklärten Wenzels.

Gymnastik für Senioren

So bietet Dorle Gritzan nun zweimal pro Woche zwischen weißen Kacheln und alten Brotschiebern Hockergymnastik für Senioren an – oder „Sesselgymnastik“, wie Heinz Wenzel sagt, wenn er sie necken will. Dienstags machten inzwischen acht Grimmer mit, mittwochs sieben, erzählt die Kursleiterin glücklich.
Gabriele Tobe-Mankus als gelernte Schlosserin hofft, dass der Verein bald genug Geld hat, um einen der Schuppen in eine Werkstatt umzubauen. „Da wär ich dann dabei“, sagt sie. Auch Sprachkurse für Flüchtlinge würden die Wenzels gern anbieten, ein erster Lehrer ist aber wieder abgesprungen. Dass das Angebot gebraucht wird, davon sind sie jedenfalls überzeugt.
Denn Europa werde sich auf Dauer gegen die Flüchtlingsströme nicht wehren können, Deutschland nicht, Grimmen auch nicht. „Die Flüchtlinge kommen, das ist so“, sagt Dorothea Wenzel trocken. Der Norden habe jahrelang dazu beigetragen, Länder im Süden auszubeuten, nun müssten alle schauen, wie sie aus der Situation das Beste machten. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir etwas abgeben müssen“, sagt auch ihr Mann. Flüchtlinge aufnehmen, das gehe nicht zum Nulltarif. „Aber Kirche hört auf Kirche zu sein, wenn sie nicht Kirche für Andere ist.“