„Beende den Wahn. Lass Frieden werden.“

Sie konnten einfach nicht mehr schweigen: Gemeinden der Nagelkreuzgemeinschaft in Mecklenburg-Vorpommern haben gemeinsam ein Wort zum Frieden entworfen.

Das Nagelkreuz im Gemeindehaus Neuendorf auf Hiddensee, hier mit dem Senior der Bewegung, Paul Oestreicher, im Jahr 2011
Das Nagelkreuz im Gemeindehaus Neuendorf auf Hiddensee, hier mit dem Senior der Bewegung, Paul Oestreicher, im Jahr 2011Tilman Baier

Kloster auf Hiddensee. Jeden Tag seit dem Beginn des Krieges läuten die Glocken der Inselkirche auf Hiddensee fünf Minuten lang, und jeden Tag gibt es ein Friedensgebet. „Aber wir sollten als Nagelkreuzgemeinde nicht schweigen zu den Geschehnissen“, hatte der Kirchengemeinderat außerdem gefordert. „Wir wollen ein gemeinsames klares Wort finden.“

Seit 1999 gehören die Hiddenseer der Friedensbewegung rund ums Nagelkreuz an. Sie geht zurück auf den Dompropst Richard Howard aus Coventry. Nach einem Angriff der deutschen Luftwaffe auf den englischen Ort stand er 1940 in den Trümmern seiner Kathedrale, hob drei große Zimmermannsnägel aus dem zerstörten Dachstuhl auf und setzte sie zu einem Kreuz zusammen. Die Gedanken an Vergeltung wollte er verbannen – und das war keine leichte Aufgabe angesichts von 550 getöteten Menschen in einer zerstörten Stadt. Keine Vergeltung. „Father forgive“, ließ er in die Chorwand der Ruine meißeln. „Vater, vergib!“

Immer freitags in Coventry

Die Idee der völkerweiten Versöhnung ging um die Welt, ein Kreuz aus Nägeln wurde Symbol der beteiligten Gemeinden. 1959 wurde das Coventry-Gebet formuliert und wird seitdem freitags in Coventry und den Nagelkreuzzentren der Welt gebetet.

Überlebende in den Trümmern von Coventry am 15. November 1940
Überlebende in den Trümmern von Coventry am 15. November 1940akg-images

In MV sind das die Kirchengemeinden auf Hiddensee, aus St. Marien Stralsund und Krummin-Karlshagen-Zinnowitz. Außerdem inzwischen auch Rostock, Sievershagen und Demmin. Erstere trafen sich im März auf der Insel Hiddensee zur nach der Corona-Pause ersten jährlichen Begegnung. Und dabei verabschiedeten sie nun das gemeinsame Wort, das zu sagen ihnen so wichtig war. Um nicht zu schweigen. „Dieses Treffen war auch ein Trost für uns alle“, sagt Inselpastor Konrad Glöckner. „Die Tage dieses Krieges erleben wir als schwere Herausforderung für unsere Zuversicht.“

Da sei es wichtig zusammenzustehen. Vielen fehle es an Worten, so Glöckner. Und darum sollten die gefundenen auch nicht nur ihnen, den Nagelkreuzgemeinden, helfen, sondern auch allen anderen Christen zur Verfügung stehen. „Wir wollen damit unserem Versöhnungsauftrag nachkommen.“ Niemand sei vorbereitet gewesen auf diese Situation. Die Nachrichten überschlagen sich. Die Gedanken und Gefühle können nicht Schritt halten. Die Flut an Informationen verwirrt. „Aber ein Gebet muss nicht alle Dinge richtig wissen. Es vertraut ja auch die nur erst angedachten Dinge Gott an, es muss nichts vollständig erklären.“

Mehr als eine Stunde lang diskutiert

Und darum war es gut zu reden, sagt er. „Reden hilft, sich selbst zu vergewissern.“ Eineinhalb Stunden haben die 15 Teilnehmenden aus den Kirchengemeinden sehr intensiv geredet und auch kontrovers diskutiert. Im Fokus dabei der Wortlaut des vom Kirchengemeinderat Hiddensee verfassten Papiers. „Angelehnt ist es an das Coventry-Gebet“, sagt Pastor Glöckner. „Vater, vergib!“, so nun also auch der Titel des Hiddenseer Wortes. Es beschreibt Entsetzen und Trauer über den Angriffskrieg. Und es bringt die Bitte vor Gott: „Stehe den Leidtragenden bei. Beende den Wahn. Lass Frieden werden.“ (Hier lesen Sie das Gebet im Wortlaut)

Die Nagelkreuzgemeinden haben das von ihnen verabschiedete Wort überallhin verschickt und in ihren sozialen Netzwerken verbreitet. „Wir haben uns sprachlos gefühlt, und jetzt haben wir Worte“, beschreibt Glöckner eine der Reaktionen.