Barfuß die Zeit vergessen

Auf Eiderstedt sind das ganze Jahr hindurch Pilger unterwegs. Pastorin Inke Thomsen-Krüger bietet auf der nordfriesischen Halbinsel verschiedene Routen und Formate an.

Bei Westerhever pilgert die Gruppe gemeinsam in den Sonnenuntergang.
Bei Westerhever pilgert die Gruppe gemeinsam in den Sonnenuntergang.Thorge Rühmann

Westerhever. Die Weite. Es ist die endlose Weite von Watt, Meer und Himmel, die uns umgibt. Sie vermittelt das Gefühl, freier zu sein als sonst. Besser atmen zu können. Der Kopf hat Pause, die Seele darf baumeln. Obwohl – hier in der flachen Welt an der Wasserkante gibt es nichts zum Baumeln. Die Seele, wenn sie schon heraus will aus dem Ich, kann den Deich runterlaufen, auf den Salzwiesen spazieren oder ins Watt wandern.

Licht, Sonne, Mond und Weg

Genau das werden wir tun. „Wir“ meint eine Gruppe von rund 30 Menschen, die sich am Abend eines schönen Sommertages am äußersten Zipfel im Westen von Eiderstedt versammelt hat, unweit von Westerhever, direkt am Deich. Inke Thomsen-Krüger empfängt uns. Die Pastorin zeichnet verantwortlich für das Pilgern auf und rund um Eiderstedt, sie hat diese Treffen erdacht und bietet sie regelmäßig allen Interessierten kostenlos an – Einheimischen und Touristen gleichermaßen.

In der Mitte des Kreises, den wir barfuß auf der Salzwiese am Fuß des Deichs bilden, steht eine Kerzenlaterne, die Steine mit der Aufschrift „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg“ beleuchtet. An diesem Abend dreht sich vieles um Licht und Energie: „Licht, Sonne, Mond und Weg – diese Wörter möchte ich verbinden“, sagt die Seelsorgerin. Die Uhrzeit hat sie so geplant, dass wir zuerst dem Sonnenuntergang über dem Meer entgegengehen und auf dem Rückweg den Mond über dem Deich aufgehen sehen. „Wir singen so viele Lieder, ich will die einmal erlebbar machen“, sagt sie und verknüpft immer neue Wörter, etwa Sonnenstrahl, Strahlkraft und Kraftpaket zu einer Kette aus Silben. Mal klingt es fröhlich, mal versonnen, dann zuversichtlich.

Dann gehen wir los. Wie ein Mantra singen wir ein ums andere Mal ein kurzes Lied mit einer sehr eingängigen Melodie, es lautet: „Sende dein Licht und deine Wahrheit / dass sie mich leiten zu deiner Wohnung / und ich dir danke, dass du mir hilfst.“ Die ersten fünf Male klingt es noch etwas holperig, ab dem zehnten Mal Singen wird es schon recht flüssig, und danach zähle ich nicht mehr, wie oft wir es auf dem Weg ins Watt und später daraus zurück singen.

Gemeinschaftsgefühl wird durch das Pilgern gestärkt

Da, wo es nicht mehr weitergeht, wo Watt ins Meer übergeht, verharren wir, betrachten den Sonnenuntergang. Das Lied, das Licht, das Watt und das Wasser – alles scheint miteinander zu verschmelzen, nicht auf eine verbrämte, vergeistigte Art, sondern ganz schlicht, ganz unverblümt, auch ganz unverhofft. Es sind die Weite, der grenzenlose Horizont, die das gemeinsame Pilgern zu einem Erlebnis machen. Das Gefühl, dass die Zeit endlich einmal ausreicht, um zu einer inneren­ Ruhe zu finden – es verbündet sich mit dem Gefühl von Freiheit.

Aus der Gruppe ist auf dem Weg zurück von der Wasserkante eine Gemeinschaft geworden, weil sie dasselbe erlebt hat – einen Ausflug in die Langsamkeit, heraus aus den Zumutungen der modernen Gegenwart, hinein in etwas, das unendlich viel langmütiger, vielleicht auch gleichgültiger, aber jedenfalls ohne jede Hektik ist. Und doch voller Leben. Auf der Salzwiese ziehen die Pilger ihre Schuhe gemächlich wieder an, niemand drängelt. Die Kerzen, die die Mitorganisatorin und Kerzenzieherin Birgit Groth aufgestellt hat, flackern im lauen Wind. Sie passen zu diesem Entschleunigen.

Groth sagt in die Runde: „Die Zeit scheint uns geraubt zu werden, wenn wir nicht selbst dafür sorgen, dass wir sie behalten. Wir hören uns selbst nicht mehr zu, was wir in unserem Herzen wollen.“ Jetzt darf jeder einen Herzenswunsch aufschreiben und ihn in einen kleinen Klumpen Ton eintöpfern. Die Pilger kneten emsig unterschiedliche Formen. In ein bis zwei Jahren soll der dann hart gewordene Ton zerschlagen werden – „ihr werdet euch wundern, was dann zum Vorschein kommt“, prophezeit Groth.

Manche Touren dauern mehrere Tage

Mediativ „ins Schweigen zu kommen“, das findet Pastorin Thomsen-Krüger wichtig. Doch es sei heutzutage schwierig für viele Menschen, zu schweigen und das Schweigen auszuhalten. Was bringt das Stillsein mit sich? „Es ist die einzige Möglichkeit, ins Zwiegespräch zu kommen mit Gott und sich selbst“, sagt sie. Um zu sich zu finden.

„Ich führe Menschen in die Weite“, sagt die Nordfriesin dazu. Seit 2016 ist das Pilgern ein zusätzlicher Teil ihrer Arbeit, neben dem Amt als Pastorin der Kirchengemeinde in Oldenswort auf Eiderstedt. Es gibt spirituelle Wanderungen, teils bis zu 20 Kilometer pro Tag auf Schusters Rappen. Manche Touren dauern mehrere Tage, deshalb wurde das Gemeindehaus eigens in ein Gästehaus umgebaut. „Der Weg führt die Pilgernden von hier aus weiter entlang von Haus-, Herzens- und Kirchtüren“, so Thomsen-Krüger. Unterwegs gebe es Bibellesungen, Lieder, Gebete – und immer wieder zwischendurch Schweigen.

Das gemeinsame Schweigen an diesem Abend im Watt fällt mir nicht immer leicht, merke ich. Aber irgendwann fällt dieses beklemmende Gefühl von mir ab; wohltuend ist das. Der Entschluss, quer durchs Land nach Westerhever zu kommen, war spontan – aber genau richtig. Und ich nehme mir vor, noch mal wieder in die befreiende Weite am Meer zu pilgern.

Am Donnerstag, 5. September, steht die Pilgerveranstaltung „Meine Seele sei stille zu Gott, der mir hilft – ein Tag im Schweigen im Katinger Watt“ auf dem Programm. Treffpunkt um 10 Uhr auf dem Parkplatz Katingsiel. Neben weiteren Terminen sind im Internet auf www.pilgern-eiderstedt.de zahlreiche Infos rund ums Pilgern auf der Halbinsel zu finden.