Auf Streifzug zu den Kirchen im Norden

Karger und rauer – Kirchen in Schleswig-Holstein haben ihre eigene Ästhetik. Dafür gibt’s den kleinsten Dom der Welt. Streifzug mit einem Architekten.

Eine typisch romanische Dorfkirche ist die Vicein-Kirche von Ratekau
Eine typisch romanische Dorfkirche ist die Vicein-Kirche von RatekauHolger Ellgaard

Kiel. Eines seiner Lieblingsgebäude ist eine kleine romanische Dorfkirche: St. Laurentius in Munkbrarup. „Mich faszinieren Bauten, die viele Perioden in sich vereinen“, sagt Dieter-Jürgen Mehlhorn, Architekt, Stadtplaner und Professor für Städtebau in Kiel und Lübeck. In dem von außen trutzig wirkenden Kirchlein in Nordangeln finden sich Elemente aus 600 Jahren Architekturgeschichte. „Was wunderschön ist: das Portal!“, schwärmt Mehlhorn. Es wird durch Säulen in drei Stufen gebildet und wurde aus dem schwer zu bearbeitenden Granit geschlagen. Im Tympanon der thronende Christus zwischen Petrus und Paulus.
„Drinnen hängt ein Kruzifix, das eigentlich viel zu groß für die Kirche ist“, sagt Mehlhorn. Das mächtige, zweiseitige Triumphkreuz aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammt sehr wahrscheinlich aus dem nahen Rude-Kloster, dessen Zisterzienser-Mönche nicht nur über Jahrhunderte das Leben, sondern auch den Namen des Ortes prägten. Aus seinen Steinen wurde später das Glücksburger Schloss erbaut. Der Orgelprospekt schließlich stammt von 1740.

Kirchen setzten Maßstäbe

Das sei wirklich typisch für die Kirchenarchitektur in Schleswig-Holstein, sagt der Architekt: Die kleinen von außen eher unscheinbaren Dorfkirchen mit ihrer oft reichen Ausstattung, romanischen Taufbecken, spätmittelalterlichen Altären mit kostbaren Retabeln, kunstvollen Kanzeln und Orgeln. Für sein neues Buch „Architektur in Schleswig-Holstein“ hat er zweieinhalb Jahre lang das Land bereist und neben Gutshäusern, Bauern- und Bürgerhäusern und anderen Bauwerken auch viele Kirchen und Klöster porträtiert. „Der Kirchenbau war ja eine Art ´Leitkultur´. Da wurden Maßstäbe gesetzt.“ Für Schleswig-Holstein waren das etwa die so genannten Vicelin-Kirchen, die ab Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden – feldsteinerne Zeugnisse der Christianisierung in unruhigen Zeiten.
Vicelin, der „Apostel der Slawen“, war mit einem Sendbrief nach Ost-Holstein aufgebrochen, um den heidnischen Wagriern den Glauben zu verkünden. Zunächst hatte er dabei keinen Erfolg. Zwei von ihm gegründete Klöster in Neumünster und Segeberg wurden überfallen und niedergebrannt. Als aber nach dem Sieg der Holsten über die slawischen Wenden neue Siedler ins Land gekommen waren, begann er von Neumünster aus, nach passenden Orten für Kirchen zu suchen. Süsel und Bornhöved können eine Vicelinkirche vorweisen, ebenso wie Ratekau und Bornhöved. Nachdem der Missionar zum Bischof von Oldenburg geweiht war, ließ er sich auch in Bosau am Plöner See eine schlichte Kirche aus Findlingen mit dem typischen runden Wehrturm bauen und weihte sie 1152 Petrus. Insofern ist St. Petri zu Bosau quasi eine ehemalige Bischofskirche und wird noch heute vor Ort liebevoll aber historisch nicht ganz korrekt als „kleinster Dom der Welt“ bezeichnet.
Mit kugeligen Feldsteinen ließ sich auch nicht viel Größeres bauen. Das ging allerdings mit einem anderen Werkstoff, der eine weitere Charakteristik schleswig-holsteinischer Architektur hervorbrachte: dem gebackenen Ziegel. Maßstäbe im Backsteinkirchenbau setzten die großen Dome in Lübeck und Ratzeburg sowie die Stiftskirche in Segeberg, die ersten ihrer Art in Norddeutschland , aber ganz offenbar nicht das Werk von Anfängern. Das Wissen und die Technik kamen aus Oberitalien von den Zisterziensern. „Mit Backsteinen konnte das zisterziensische Ideal von Einheitlichkeit erfüllt werden, so wie sie es beispielsweise im Burgund, dort aber mit Werkstein, praktizierten“, sagt Mehlhorn.

Eine Kirche ohne Turm

Mit Backsteinen konnte man auch sehr viel höher bauen als mit Feldsteinen und behauenem Granit, wie wir es am Lübecker Dom mit den 115 Meter hohen Türmen sehen. Und dennoch beteiligte man sich hierzulande nicht an dem Wettstreit um den höchsten Kirchturm der Welt, der nach dem Mittelalter im 19. Jahrhundert wieder aufflammte und den das evangelische Ulmer Münster im Ringen mit Köln knapp für sich entscheiden konnte (161 zu 156 Metern). Hier nicht. Hier wurden Türme sogar wieder abgetragen, so etwa in Husum und Flensburg, denn in Schleswig-Holstein gestaltet auch das Wetter die Architektur mit. Mehlhorn: „Hier gilt: Eher niedrige Türme bauen, wegen des Sturms. Dadurch kommen die gedrungenen Formen zustande.“
Gar keinen Turm hat das neue Kirchenzentrum in Klein Offenseth-Sparrieshoop, das 2014 als bislang erster Kirchenbau des neuen Jahrhunderts im nördlichsten Bundesland eingeweiht wurde. „Sehr konventionell und sehr schön“, findet Mehlhorn. Der preisgekrönte Entwurf der Lübecker Architekten Petersen Pörksen Partner verbinde traditionelle Sakralität ideal mit allen modernen funktionalen Anforderungen. An das längliche Kirchenschiff schließt sich das Gemeindezentrum in Form eines kleinen Klosters an.

Kirchturm im Designer Outlet

Knapp 600 Objekte hat Mehlhorn fotografiert und beschrieben – von der rekonstruierten Siedlung Haithabu bis hin zum Designer Outlet Center Neumünster, das der Autor aufgenommen hat, weil es das Landschaftsbild prägt „und deshalb erklärungsbedürftig ist“. Auch in diesem künstlichen „Village“ durfte offenbar ein „Kirchturm“ nicht fehlen: Eine Attrappe mit grün schimmerndem Zwiebeltürmchen ziert einen der Läden.
„Kirchen sind Identifikationsmerkmale, räumlich und ideell“, sagt der Architekt, „sie verändern ihre Gestalt. Ihre Architektur erzählt davon, wie Kirche sich in der Welt darstellt.“ Würden auch manche Kirchen musealisiert, so werden die Kirchbauten wohl nie ins Museum kommen. Mehlhorn weiß vom Freilichtmuseum Detmold, das seit Jahren vergeblich nach einer Dorfkirche für seine Ausstellung suchte. „Glücklicherweise ohne Erfolg“, sagt der Architekt. Jetzt baut das Museum einfach selbst eine.
Info
Dieter-J. Mehlhorn: „Architektur in Schleswig-Holstein – Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“, erschienen im Wachholtz-Verlag Kiel 2016. 406 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen.
Das Buch können Sie hier bestellen. Außerdem finden Sie viele weitere Publikationen in der Evangelischen Bücherstube.
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