Als Verschweigen nicht mehr möglich war

Vor zehn Jahren begann Deutschland zu erkennen, in welchem Ausmaß die Kirchen und andere Institutionen sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche vertuscht haben. Den Anfang machten drei frühere Elite-Schüler und ein Pater.

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Berlin. Es war kein aktueller Fall, der vor zehn Jahren die Aufdeckung der Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche auslöste, sondern ein Brief. Der damalige Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, der Jesuitenpater Klaus Mertes, richtete ihn am 19. Januar 2010 an Absolventen des katholischen Elite-Gymnasiums, nachdem ihm drei ehemalige Schüler von Missbrauchserfahrungen und dem Ausmaß der Gewalt an der Schule in den 1970er und 80er Jahren berichtet hatten. Er wolle dazu beitragen, „dass das Schweigen gebrochen wird“, schrieb Mertes.

Das gelang ihm. Knapp zehn Tage später räumte der Jesuitenorden Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg öffentlich ein. Immer mehr Opfer sexueller Gewalt meldeten sich, bald bundesweit und zunehmend über die katholische Kirche hinaus.

Die frühere Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) wurde zur ersten Missbrauchsbeauftragten berufen und richtete eine Anlaufstelle für Betroffene ein, bei der sich Tausende meldeten. Ihr Nachfolger, Johannes-Wilhelm Rörig, setzte eine unabhängige Aufarbeitungskommission durch. Ein Meilenstein war der erste Betroffenen-Kongress in der lichtdurchfluteten Akademie der Künste am Brandenburger Tor: Die Menschen versteckten sich und ihr Leid nicht länger.

Das entscheidende Problem: Vertuschung

Hinweise auf sexuelle Gewalt in Heimen, Schulen, in Sakristeien, Pfarrhäusern und in Internaten hatte es schon lange vorher gegeben. Ein Drittel der Heimkinder in der frühen Bundesrepublik berichtete dem Runden Tisch von Missbrauchserfahrungen. Die „Frankfurter Rundschau“ hatte 1999 über die Fälle an der Odenwaldschule berichtet. Einer der Täter am Canisius-Kolleg hatte 1991 kirchenintern seine sexuellen Übergriffe gestanden. Davon drang nichts nach außen.

Erst 2010 war die Zeit reif, dass Öffentlichkeit und Politik begannen, den Überlebenden zuzuhören und sich dem Skandal in den Institutionen zuzuwenden: dem jahrzehntelangen, erfolgreichen Verschweigen und Vertuschen Tausender Gewaltakte gegen Kinder und Jugendliche durch Kirchen- und Ordensobere, Schuldirektoren, Heimleiter. „Vertuschung ist das entscheidende institutionelle Problem“, sagt Pater Mertes. Er leitet heute eine Schule im Schwarzwald.

Letzte Chance

Gesellschaftlich sei viel in Bewegung gekommen, bilanziert der Sprecher der Opferinitiative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, der zu den drei Canisius-Schülern gehört, die bei Mertes waren. Aber für die Betroffenen seien es auch „zehn verlorene Jahre“. Die Debatte über Entschädigungen werde erst jetzt geführt: „Die Opfer haben lange gewartet. Es muss jetzt eine Lösung gefunden werden“, drängt Katsch: „Gelingt das nicht, verspielt die Kirche ihre letzte Chance auf einen glaubwürdigen Neuanfang.“

Der Missbrauchsbeauftragte Rörig, der mit den Kirchen in engem Kontakt steht, bilanziert, beide Kirchen hätten das Ziel einer umfassenden Aufarbeitung noch nicht erreicht, „da gibt es immer noch Widerstände“. Im Gespräch mit dem WDR bestand Rörig darauf, „dass unabhängige Kommissionen das Mandat bekommen, das Ausmaß von Missbrauch aufzuarbeiten“. Betroffene müssten Akteneinsicht erhalten, damit die Vertuschung aufgeklärt werden könne.

Klarer Konsens

Es gibt Zahlen, aber sie erfassen das tatsächliche Ausmaß nicht. Auf katholischer Seite nennt die von der Bischofskonferenz selbst beauftragte Missbrauchs-Studie die Zahl von 1.670 beschuldigten Klerikern, die 3.677 Kinder und Jugendliche missbraucht haben sollen. Die Forscher, die keinen Zugang zu den kirchlichen Akten hatten, sprechen von „unteren Schätzgrößen“.

In der evangelischen Kirche waren Ende vergangenen Jahres rund 770 Missbrauchsfälle bekannt, 60 Prozent davon in der Diakonie. Eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung soll weitere Erkenntnisse bringen.

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) erklärt, es sei noch viel zu tun, aber sie sehe auch Erfolge: „Es gibt inzwischen einen ganz klaren gesellschaftspolitischen Konsens, dass Missbrauch von Kindern nicht toleriert werden darf“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Ich erwarte, dass die Kirchen konsequent weiterarbeiten – an der Aufarbeitung der Fälle, der Entschädigung der Opfer und der Frage, wie die Täter zur Verantwortung gezogen werden“. (epd)