Als der Küster noch Lehrer war

Ab in die Schule! Die Kinder sollten nach der Pommerschen Schulreform etwas lernen, statt zum Arbeiten aufs Feld gehen. Ein Selbstläufer war das nicht, und doch ging es mit der Bildung nach vorn – auch wenn noch der Rohrstock mitlehrte.

Dietmar Roglitz erforschte das pommersche Schulwesen im 19. Jahrhundert und blickte dabei auf die Region um Penkun.
Dietmar Roglitz erforschte das pommersche Schulwesen im 19. Jahrhundert und blickte dabei auf die Region um Penkun.epd/Christine Senkbeil

Penkun. Als 1820 in Rammin ein neues Schulhaus erbaut wurde, deckten die Bauern nur die eine Hälfte des Daches. Die andere Hälfte, so fanden sie, müsse der Gutsherr bezahlen. Der aber weigerte sich vehement – und so blieb es vorerst beim halben Dach. „Sie wollten nicht nachgeben“, beschreibt Dietmar Roglitz. Erst die Schulbehörde in Stettin klärte den Streitfall. Das Buch „Ein Lehrer auch an der kleinsten Schule“ erzählt einige Episoden wie diese. Es ist die Dissertation, die der Pädagoge Roglitz über die „Elementarschulreform in der preußischen Provinz Pommern“ verfasst hat, am Beispiel des Schulaufsichtsbezirkes Penkun in den Jahren 1763 bis 1872.

Eine Forschungsarbeit, die vor 25 Jahren auf dem staubigen Dachboden des Penkuner Pfarrhauses begann, ging dem voraus. Das Geschichtsinteresse brachte Dietmar Roglitz mit. Nicht unbeteiligt daran: der damalige Sommersdorfer Pastor Karl-Heinz Sadewasser, der zum Dorfjubiläum von Grünz – dem Heimatdorf von Roglitz – einen Geschichtsarbeitskreis anregte. Das Verheißungsvolle der Pfarrakten aus dem alten Stahlschrank begeisterte den heute 47-Jährigen schon im Konfirmandenalter.

In den 1990ern studierte er Geschichte, Mathematik und Religion auf Lehramt in Greifswald. In den Semesterferien stieß er in einer Bodenkammer des Penkuner Pfarrhauses auf einen großen Haufen Akten „in einem heillosen Durcheinander und unglaublich verstaubt“, wie er beschreibt. Roglitz säuberte und sortierte – den gesamten Bestand des Archivs der vormaligen Superintendentur Penkun, und später auch den aus Gartz an der Oder. 20 Jahre später, auch angeregt durch seinen Professor Andreas Pehnke, tat sich die Perspektive auf, die regionale Geschichte des Schulwesens der Randow-Region konkret zu erforschen.

Preußen wollte mündige Bürger statt Untertanen

Spannende Erkenntnisse zog er aus den Briefen, Tabellen, Akten und Vermerken des Schulaufsichtsbezirks Penkun, der sich von Löcknitz im Norden bis nach Kunow im Süden erstreckte und die Kirchspiele Blumberg, Glasow, Kummerow, Löcknitz, Nadrensee, Retzin, Sonnenberg, Schönfeld, Sommersdorf, Wollin und Woltersdorf mit ihren jeweiligen Filialdörfern umschloss. Er forschte in den Pfarrarchiven der Dörfer, in Pasewalk, Stettin, Greifswald. Über eine Zeit der Reformen, besonders im Bildungswesen. Nach den napoleonischen Kriegen wollten die Regierenden einen Staat bilden. Mit mündigen Bürgern, nicht nur mit Untertanen. „Man erkannte in Preußen: Wenn ich Bürger haben will, die die Staatsidee mittragen, muss ich bei der Bildung ansetzen.“

Und Bildung braucht Lehrer

In Stettin entstand ein erstes Lehrerseminar. Etwa 20 Lehrer – sämtlich männlich – wurden pro Jahr ausgebildet. Bildung brauchte mehr Klassenräume. Zwar hatte es auch bisher eine Schulpflicht gegeben. Diese jedoch wurde nur lax durchgesetzt: Gerade auf dem Land wurden die Kinder für die Arbeit gebraucht. Bildung brauchte auch Schulbänke, die sogenannten Subsellien: fest montierte Bänke mit Sitzen. Geordnet nach Altersgrößen. „Wir sind in Preußen“, sagt Roglitz: „Für die Sitzhöhen und Tischbreiten gab es exakte Vorschriften, selbst über die genaue Position des Tintenfasses.“

Separate Schulgebäude gab es im Schulaufsichtsbezirk Penkun kaum. Der Unterricht fand in der Regel im Küsterhaus statt, errichtet in Fachwerkbauweise. Dadurch war es bei steigender Schülerzahl problemlos möglich war, den Lehrraum zu vergrößern. Küster und Lehrer waren eine Person: Die Kirche war mit allen Schulangelegenheiten betraut. Der Pastor blieb bis 1919 der direkte Vorgesetzte des Lehrers, während der Superintendent die Kreisschulaufsicht führte. Die Besoldung aus dem Küsteramt war für das Überleben eines Lehrers dringend notwendig.

Sport für die Jungs und Nadelarbeit für Mädels

Das liebe Geld – auch damals ein ewiger Streit. Die Regierung kam mit Forderungen und Regularien um die Ecke, die Finanzierung aber war keine Staatsangelegenheit, die oblag den Ortschaften selbst. Wer bezahlt aber nun Schule, Bank und Tintenfass? Die Gutsherren in Gutsdörfern, die Bauern in Bauerndörfern, so war es gedacht: „Da war Streit programmiert“, sagt Roglitz – und den gab es zuhauf, sogar übers Gericht. Wie in Rammin. Es herrschte ein spannungsreiches Verhältnis zwischen staatlichem Anspruch und dörflicher Lebenswelt.

Und doch spricht Roglitz von einer Modernisierung. Auch wenn es etwa 80 Kinder waren, die vom Küsterlehrer unterrichtet wurden – einzügig. „Wenn es mehr als 80 wurden, führte man auch Wechselunterricht ein, vor- und nachmittags, wie bei uns zur Corona-Zeit.“

Bei so vielen Kindern musste Disziplin herrschen. Ein guter Lehrer, hieß es, wisse sich des Rohrstocks zu bedienen. „Das wurde erwartet.“ Nur wenige Vermerke fand Roglitz, in denen zu harte Züchtigung angeprangert, überhaupt angemerkt wurde. „Es führte maximal zu einer Rüge, nie zur Entlassung eines Lehrers.“ Entlassen allerdings wurde Lehrer Johann Casdorf in Blumberg: wegen seiner Trunksucht. „Der Pastor hat ihn bei seinen Visitationen wohl kaum mal nüchtern angetroffen.“ Wöchentliche Besuche des Pastors waren vorgeschrieben, und auch um die Weiterbildung der Lehrer, den sogenannten „nachhelfenden Unterricht“ hatte sich der Pastor zu kümmern. Visitationen kamen außerdem vom Superintendenten, und in Abständen von der höchsten Instanz, dem Schulrat aus Stettin.

Lehrer arbeiteten damals bis zum Tode

„Im Amt verstorben“, diesen Vermerk fand Roglitz häufig. Lehrer arbeiteten praktisch noch bis zum Tode. Rente? Fehlanzeige. Und zuweilen dauerte es Jahrzehnte, bis eine Dorfschule wirklich einen ausgebildeten Lehrer bekam. Mädchen und Jungen lernten zusammen. Nur „körperliche Ertüchtigung“ war den Jungen vorbehalten. Die Mädels machten Nadelarbeit mit Frau Lehrer. „Jungen sollten wehrertüchtigt sein, und Mädchen das Haus führen – diese Rollenbilder wurden hier verfestigt.“

So vielseitig die Betrachtungen in Dietmar Roglitz’ Buch sind, so lebendig kann er darüber erzählen. Nach vielen Jahren als Lehrer und in der Lehrerausbildung arbeitet er nun ganz als Fachleiter für Geschichte am Institut für Qualitätsentwicklung M-V im Regionalbereich Greifswald. Nahe dran sein. Das war und ist ihm wichtig. Darum freut er sich auf die Buchvorstellungen, die er in der Region machen möchte: „Es sind ja Geschichten aus den Dörfern selbst, teils mit Namen, die noch bekannt sind.“ Ein Stück Geschichte der Kirchengemeinde eben – verstaubten Akten entlockt.