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Abgründig, wütend, brutal: Weird Girl Fiction will provozieren

Eine Mutter wird nachts zum Hund, eine vom Ehemann gedemütigte Ehefrau beschließt, Veganerin zu werden, und eine von Kindheitstraumata gezeichnete Frau nimmt in rauen Mengen Schlafmittel, um einfach mal ein Jahr durchzuschlafen: Diese Bücher haben etwas gemeinsam, sagt Sontje Schulenburg, Promotionsstudentin am Englischen Seminar an der Universität Tübingen. „Es ist eine neue Art, bekannte feministische Probleme zu identifizieren und zu beschreiben.“

Alle Romane – „Nightbitch“ von Rachel Yoder, „Die Vegetarierin“ von Han Kang und „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ von Ottessa Moshfegh – stellten zuerst eine passive, resignierte weibliche Figur dar, erläutert Schulenburg. Dann aber werde die Machtlosigkeit angesichts von festgeschriebenen, einengenden Rollen hinterfragt. Viele der Texte arbeiteten zusätzlich mit Provokation und Grenzüberschreitungen, wie zum Beispiel das Zur-Schau-Stellen von mangelnder Körperhygiene.

So entstehe nicht nur eine neue, verfremdete Sichtbarkeit, sondern es würden auch gesellschaftliche Normen infrage gestellt, erläutert Schulenburg. „Weird Girl Fiction“, also Fiktion seltsamer Mädchen, werden solche Romane oft genannt. Wissenschaftlerin Schulenburg sieht Weird Girl Fiction bisher vor allem als ein BookTok-Phänomen. Damit sind Büchertipps und Rezensionen auf der Social-Media-Plattform TikTok gemeint.

Der „Ecco“-Verlag hat sich auf die Literatur von Frauen spezialisiert. Weird Girl Fiction nehme einen wichtigen Stellenwert im Programm ein, denn man wolle gerne irritieren, sagt Veranstaltungsmanagerin Sabine Metzger. Die Protagonistinnen in diesen Büchern entsprächen nicht der femininen Norm, sie zeigten geradezu teils dysfunktionales Verhalten. „Die Autorinnen haben die Freiheit, solche Abgründe erzählerisch zu ergründen, die ansonsten eher tabuisiert sind.“

Wie also soll eine Mutter mit ihrer Wut darüber umgehen, dass sie ihren geliebten Job vorerst für das Wunsch-Kind aufgeben muss? Dass sie sich also, anders als der Mann und Vater, entscheiden muss? Dass eine Frau, sobald sie Mutter wird, auf diese Rolle festgeschrieben wird? In „Nightbitch“ (2023) von Rachel Yoder liest sich das so: „Mir wächst ein Fell, und ich habe einen Schwanz“. Und weiter: „Sie wollte nicht zum Arzt gehen und sich erklären lassen, dass sie in Ordnung war und sich das alles einbildete. Nichts war in Ordnung.“

Schulenburg sagt: „Yoder lässt ihre Hauptfigur ‘Nightbitch’ zu einem Hund werden. In dieser Rolle darf sie ihre Aggressionen ausleben, die sie ansonsten als Frau und Mutter verdrängen muss, weil sie ihr vermeintlich nicht zustehen“. Yoder thematisiere also die Erwartungshaltung an Frauen, Wut und ambivalente Gefühle – hier bezogen auf das Mutter-Sein – eher verdrängen zu müssen.

In „Die Vegetarierin“ von Han Kang, 2024 geehrt mit dem Literaturnobelpreis, findet sich die Protagonistin Yong-Hy in dieser Szene wieder: „Sie kauerte in ihrem Nachthemd auf dem Boden, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht.“ … „Die Gerfrierbeutel enthielten Fonduefleisch, Schweinebauch, zwei Packungen Rinderfilets, Tintenfisch, Aal. Stück für Stück warf sie diese in einen großen Müllbeutel.“

Yong-Hy beschließt von einem Tag auf den anderen, keine tierischen Produkte mehr zu essen. „Die Entscheidung der Protagonistin für den Veganismus ist provokant für die anderen Figuren, da die Kontrolle über Frauen und Tiere hinterfragt wird“, schreibt Anastasia Bramou Kasantjidou von der Nationalen Kapodistrias-Universität Athen. Der Veganismus der Protagonistin könne folglich als eine Rebellion gegen traditionelle Geschlechterrollen gelesen werden. „Die Protagonistin definiert dadurch sich selbst und die Tiere als Subjekte mit moralischen Rechten.“

Schulenburg ergänzt, dass Autorin Kang ihre Protagonistin nie selbst zu Wort kommen ließe. So bleibe diese passiv und gefangen in den patriarchalen Gefügen, die sie letztendlich zerstörten. Das Buch sei in seiner Brutalität entlarvend.

Ein anderer Roman, weniger schonungslos, dafür mit einer Protagonistin ohne Moral und Kompass ist „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ von Ottessa Moshfegh aus dem Jahr 2018. Eine namenlose junge, weiße Frau in New York begibt sich einen „Winterschlaf“: „Ich duschte höchstens ein Mal pro Woche. Ich hörte auf, mir die Augenbrauen zu zupfen, die Oberlippenhärchen zu bleichen, die Bikinizone zu wachsen, die Haare zu bürsten.“

Zugepumpt mit Schlafmitteln entzieht sich die Protagonistin der Welt. „In der Figur ist die vollkommene Ent-Bindung von menschlichen Gefühlen dargestellt, von denen man denkt, eine Heldin müsste sie haben“, sagt Schulenburg. „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ sei ein gegen den Strich gebürsteter Bildungsroman, in dem sich die Heldin durch das Leben kämpfe.

Auch „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“ von Fiona Sironic kann laut Sabine Metzger vom „Ecco“-Verlag durchaus als Weird Girl Fiction gelesen werden. Es steht auf der diesjährigen Shortlist zum Deutschen Buchpreis, der am 13. Oktober verliehen wird und mit dem der beste deutschsprachige Roman des Jahres ausgezeichnet wird. Die Jury schreibt in ihrer Begründung: „Unruhig, einfallsreich, konfliktfreudig und komisch hält uns dieses Buch durch seine Geistesgegenwart bis zur letzten Seite in Atem.“